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Wissenschaft ersetzt nicht Politik

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Politische Entscheidungen haben heute meist einen diffizilen Charakter. Sie bedürfen daher der wissenschaftlichen Vorüberlegung. Welche Rolle kommt hier der Wissenschaft zu? Sie kann und sollte zunächst einmal Stimulans für die Politik sein. Sie hat weiters für die Politik Entscheidungshilfe zu sein. Sie hat eingehende Analysen aller Kernprobleme — samt deren Übersteigerungen und Verzerrungen — zu geben. Sie hat dann weiters ihre eigenen Vorstellungen, in eigener Verantwortung, autonom, zu entwickeln.

Wie im ganzen unsere Zeit die wissenschaftliche Weltorientierung braucht, so wird die Wissenschaft weiterhin die Aufgabe der kritischen Instanz zu erfüllen haben. Auch insofern ist sie „politisch“, als in dieser Beziehung ihr Verantwortungsbereich — und dieser wird zudem heutzutage immer größer — ihre Verantwortlichkeit und Haftpflicht öffentlich ist. Die Politik bedarf nicht selten eines regulierenden, versachlichenden und nötigenfalls entmythologisierenden Faktors zwischen den Fronten der streitenden Interessen und gegenüber Viertel-und Halbwahrheiten. Gerade für die Pädagogik gilt dies angesichts eines berechtigten, notwendigerweise pluralistischen Anspruches der Politik auf Erziehung, Bildung und Unterricht und angesichts der weltanschaulichen und damit mit Emotionen verbundenen Sättigung dieser Bereiche in dem erhöhten Maße einer ideologiekritischen Instanz. Die Grenzen der Wissenschaft in diesen Belangen liegen so: Die Wissenschaft macht wohl eine fundierte Politik möglich. Sie kann aber diese nicht ersetzen. Sie sollte auch, bei aller Zuerkennung ihrer Bedeutung als staatstragende Kraft, nicht in den Verdacht kommen, selbst Politik machen zu wollen.

Bei allem Bekenntnis zur Kooperation sei doch die Autonomie der beiden Bereiche gewahrt, auch wenn es ein glückliches Geschehen ist, daß — nach dem bekannten Wort Ralph Dahrendorfs: „Professoren werden Minister und Politiker Professoren“ — beide aufeinander zukommen. Zunächst ist zu bemerken, daß der Wissenschafter nicht gleich dem Politiker die politische, demokratische Legitimation hat. Des weiteren besteht für den Experten, auch für den hochgebildeten Experten, stets die Gefahr der Enge; er ist meist auf ein mehr oder minder enges Sachgebiet spezialisiert. Eine Herrschaft der Experten, der Wissenschafter, wäre somit nicht nur nicht legitim, sondern wahrscheinlich auch sachlich ein Unheil. Kurz und gut: Dem Politiker bleibt die Führung. Er hat die Aufgabe der überwölbenden Einsicht und der daraus abzuleitenden entscheidungs-setzenden Aktion. Er hat dabei die Pflicht, sich der Erkenntnisse der Wissenschaft zu bedienen, die jedoch nicht einfach im Dienste der Praxis steht, die aber in ihrer Suche nach Wahrheit, wahrhaft gebunden, für die Praxis wirkt. Aber nochmals: Der Primat der Politik darf nicht angegriffen werden. Er muß in allen Bereichen des öffentlichen Lebens erkennbar sein.

Der erwünschte dialektische Prozeß zwischen Politik und Wissenschaft ist einzuleiten oder auch, wo dies bereits geschehen ist, weiterzuführen, vielleicht auch verbessert und vertieft weiterzuführen. Für die wissenschaftliche Arbeit — auch etwa die österreichische Schulreform — ist von dorther viel zu erwarten. Hier ist eine Partnerschaft in einem solchen geklärten und klaren Sinn unumgänglich notwendig. Sonst kämen wir nicht zu großen und langfristigen Lösungen in der Gestaltung der österreichischen Schule; denn bei allem Bekenntnis, daß die Schule „immer auf dem Wege sein“ muß, müssen doch auch wieder Ruhe und Beruhigung in unsere Schulstuben einziehen. Wir praktizieren jene Kooperation bereits durch Einladung von Politikern zu den Arbeitstagungen für Lehrplanentwicklung für die allgemeinbildenden und, erst am Anfang stehend, für die berufsbildenden Schulen, da wir jene Führungs- und Entscheidungsunterlagen nicht utopisch ohne die Einholung einer ersten Meinung und des Beitrages jener erstellen wollen, die sich ihrer dann bei der letzten politischen Beschlußfassung bedienen.

Einer gewissen Bindung der

pädagogisch-wissenschaftlichen Theorie an die Verantwortung der politischen Praxis ist also zuzustimmen. Die Kooperation von Wissenschaft und Politik scheint denn auch in der Schulreformkommission bereits weitgehend geglückt. Über Verbesserungen mehr technischer Art wird dieses oder jenes Gespräch zu führen sein.

Von beiden Seiten ist nicht nur gegenseitiger Respekt, sondern auch ein gewisses Feingefühl in den Beziehungen zu verlangen. Die Wissenschaft ist nicht die Magd der Politik, und die Politik soll nicht die Magd der Wissenschaft werden. Die letztere Gefahr besteht fast mehr als die erstere. Der Wissenschafter muß zudem über politisches Fingerspitzengefühl verfügen. So sollte er etwa nicht durch weit vorgetragene, an sich vielleicht nicht unberechtigte Vorstöße in bildungspolitischen Fragen den Politiker gegenüber der Öffentlichkeit präjudizieren. Wilhelm Jerusalem, der Wiener Philosoph und Pädagoge, hat einmal, in seiner „Einleitung in die Philosophie“, gesagt: „Wo die Wissenschaft herrscht, da schwindet zwar nicht jedes Geheimnis, aber entschieden jede Geheimtuerei“. Das, nun schon vor vielen Jahrzehnten ausgesprochen, entspricht der fortschreitenden Entfaltung der demokratischen Gesellschaft; es steht in Beziehung zu unserem zunehmenden Verständnis der Demokratie. Solchen Gedanken zu dienen, in Kooperation und Koordination, in der skizzierten Form der Kooperation und Koordination mit der praktischen Politik, betrachtet die heutige wissenschaftliche Pädagogik hier in Österreich und anderswo als eine ihrer Hauptaufgaben, ihrer staats-und gesellschaftspolitischen Aufträge, der sie sich gerne in aller Verantwortung stellt.

* Über das Thema „Curriculum = Forschung als Instrument bildungspolitischer Entscheidung I Zugleich ein Beitrag zum Verhältnis von Politik und Wissenschaft“ hielt der Autor seine Antrittsvorlesung an der Salzburger Universität. Der obige Beitrag (gekürzt) bildete den Schlußteil.

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