6556744-1948_26_03.jpg
Digital In Arbeit

Zeichen im österreichischen Sozialismus

Werbung
Werbung
Werbung

In der österreichischen Arbeiterschaft beginnen sicht die Erkenntnisse zu regen — ebenso wie in der Arbeiterschaft anderer Länder —, daß die straff gelenkte Wirtschaft nicht unbedingt nur mit Vorteilen für sie verbunden ist. In dem letzten Heft der sozialistischen Monatsschrift „Die Zukunft” (Nr. 6) schreibt Stephan Wirlander im Zusammenhang mit Betrachtungen über eine Richtungsände- rung der österreichischen Wirtschaftspolitik den Satz: „Werden Kontrollmaßnahmen aufgehoben, so muß an die Stelle der .Lenkung’ eine uneingeschränkte Konkurrenz treten.” Mag diese Feststellung auch zum guten Teil von Taktik diktiert sein, so ist sie zweifellos doch ebenso Niederschlag einer Fülle von Erfahrungen, die in und außerhalb unseres Landes in den letzten Monaten und Jahren gemacht wurden. Ganz abgesehen davon, daß wohl jeder Arbeiterführer sich mit wenig Begeisterung einer Situation gegenübergestellt sieht, in der er selbst als der für die Höhe des Sozialprodukts Mitverantwortliche mit den Mitteln direkter Lenkung steigende oder doch nur gleichbleibende Arbeitsleistungen gegebenenfalls erzwingen müßte. Auch unter den grundsätzlichen Anhängern staatlicher Wirtschaftslenkung bricht sich in zunehmendem Maße die Erkenntnis Bahn, daß die Konkurrenz in der Wirtschaft nicht nur die Preise hinunter und die Qualität hinauftreibt, sondern darüber hinaus mit einer gewissen selbsttätigen Automatik eine Normalisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse herbeiführt, die im Wege lenkender Eingriffe sich nur unvollkommen durchsetzen läßt. Wir können deutlich beobachten, wie in unseren Tagen der praktische und reale Wert des Wettbewerbes im wirtschaftlichen Leben neu entdeckt wird. Auch die Unterscheidung zwischen sozialistischer und nichtsozialistischer — richtiger nationalsozialistischer — Planwirtschaft, die Paul Sehring in seinem Buch „Jenseits des Kapitalismus” macht, weist in die Richtung einer allmählichen Auflösung der Identität von Sozialismus und Planwirtschaft. Es kommt hinzu, daß der Arbeiter auf Grund persönlicher Erfahrung mit wachsendem Mißtrauen auf jede Form totalitärer Gesellschaftsbildung blickt. Es triacht für ihn wenig Unterschied aus, wessen Sklave er ist. Er hat den Kampf um die Befreiung de Menschen nicht deshalb geführt, um aus dem Zustand „kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung”, wie Marx es nennt, in neuere und ärgere Abhängigkeiten von einem noch mächtigeren Gegenspieler zu geraten.

Die neue Stimmung, die wir zunächst in ganz leisen Andeutungen nicht nur im österreichischen, sondern im gesamten europäischen Sozialismus erkennen können, erweist sich als eine Rückbesinnung auf die freiheitliche Grandstimmung, aus welcher der Sozialismus geboren wurde. Wir sehen, daß sich das Wirtschaftsdenken mit gewissem Abstand, aber doch immerhin der Richtung des politischen Denkens anschließt. In diesem hat der europäische Sozialismus mit Entschlossenheit sich dazu bekannt, daß die Konkurrenz verschiedener Meinungen, Demokratie als freier Wettbewerb um die bessere Leistung für das Ganze die verläßliche Garantie für eine gesunde Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens darstellt. Es ist natürlich, daß die analoge Erkenntnis sich auch im Wirtschaftlichen durchsetzt. Diese neue Richtung im Sozialismus begegnet jenen neoliberalen Tendenzen, die in der monopolistischen Entartung der Marktwirtschaft die Ursache des Zusammenbruches derselben sehen. Die scharfe Akzentuierung der zitierten Äußerung Stephan Wirlanders könnte ebenso in liberaler wie in sozialistischer Grundeinstellung des Autors ihre Ursache haben.

Es hat den Anschein, daß gerade die gesündesten und kräftigsten Kräfte im europäischen Sozialismus mehr und mehr vom doktrinären Glauben an die Alleingültigkeit bestimmter Formen und Wege des Sozialismus abrücken und in der Rückbesinnung auf den ethischen Grundgehalt sozialistischen Denkens neue Wege und neue Ziele suchen. Es ist daher kein Zufall, daß sich in derselben Nummer der sozialistischen Monatsschrift mit bemerkenswerter Offenheit die christliche Wurzel sozialistischer Geisteshaltung enthüllt.

In einem Aufsatz „Bevölkerungspolitische Inventur” setzt Herbert K o h 1 i c h die Probleme einer modernen Bevölkerungspolitik auseinander. Nicht daß man in allem zustimmen könnte, aber mit Genugtuung tritt hier eine Sozialethik zutage, die wichtigste Gemeinschaft mit dem christlichen Grundsatzgut offenbart. So wenn der Autor in dem wissenschaftlichen Organ des österreichischen Sozialismus für die „Wiederher- stellung desWillenszumKinde” eintritt und ernsthaft angesichts des familienzerstörenden Zweiverdienersystems in der Ehe die Frage aufwirft:

„Ob die Erleichterung der materiellen Seite, die nun einmal keiner Verbindung zweier Menschen erspart bleibt, bis ins Alter diese Verzichte aufwiegt?” Und fortfahrend sagt: „Hier ist der Punkt, an dem die Rückführung der Eh e v o rs teil u n g en auf die Wegkreuzung des Eheideals mit der rein sexuellen Bindung wirkungsvoll ein- setzen kann.”

Auf derselben Ebene liegen die Erwägungen des Verfassers, wenn er seine Einwendungen gegen das „Abrücken von dem integralen Begriff der Heiligkeit des Menschenlebens, das jede Schwangerschaftsunterbrechung mindestens von der Feststellung der Lebensfähigkeit des Embryos an bedeutet”, in die höfliche rhetorische Frage kleidet, ob ein solches Abrücken „n och in solcher Ausweitung vertreten werden kann nach dem Sturz der Menschheit in die faschistische Barbarei und angesichts der entsetzlichen Häufung der Kapitalverbrechen”; Herbert Kohlich wendet sich auch dagegen, daß die sogenannte „soziale Indikation” die Berechtigung zur Tötung des keimenden Lebens begründen könne. Ganz trefflich sagt er:

„Was die Fälle einer Notlage betrifft, so läge in dieser Ausweitung der sozialen Indikation wohl eine allzu einfache Dispensierung der Gesellschaft von ihren Pflichten Mit dem Gedanken von der Heiligkeit des Menschenlebens darf man doch wohl nicht erst bei der polizeilichen Anmeldung des Erdenbürgers beginnen, sondern muß dies ein gutes Stüde vorher tun, wenn der Herzton neuen Lebens nach dem Lichte schlägt. Und es wäre eine Groteske, wenn Gegner der Todesstrafe für Verbrecher gegen eben diese Heiligkeit des Menschenlebens sie diesen selbst zugestehen, nicht aber einem neuen Leben, das vielleicht der Menschheit einen großen Wohltäter verheißt.”

Wir glauben nicht, daß die aufgespürten und aufgezeigten neuen Tendenzen im österreichischen Sozialismus bloße Taktik sind. Wir glauben vielmehr, daß sie Ausdruck dafür sind, daß die alten politischen Fronten ihren Sinn verloren haben. Durch den Qualm und Staub des politischen Prestiges, des Ressentiments, der Doktrinen und Voreingenommenheiten drängen Jugend und Leben ans Licht. Jene finsteren schemenhaften Despoten gehören, so gegenwärtig sie sind, der Vergangenheit an. Menschlichkeit, Freiheit, Liebe — sie tragen keine politische Etikette, sie lassen sich nicht in Schlagworte und Organisationen pressen. Sie sind die große Tradition und die Zukunft des christlichen und eines wahren sozialen Europas.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung