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Ukraine und die Gewalt der Sprache: „Wie jene, die Bomben werfen“

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Wenn der Fliegeralarm in ihrer Heimat Ukraine als Symphonie ironisiert wird, erfüllt Sprache ihre angstvermindernde Funktion, sagt die Germanistin Oksana Havryliv. Gleichzeitig kann verbale Gewalt aber auch die physische vorbereiten und provozieren. Ein Gespräch.

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Wenn der Fliegeralarm in ihrer Heimat Ukraine als Symphonie ironisiert wird, erfüllt Sprache ihre angstvermindernde Funktion, sagt die Germanistin Oksana Havryliv. Gleichzeitig kann verbale Gewalt aber auch die physische vorbereiten und provozieren. Ein Gespräch.

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Die aus Lwiw stammende Germanistin Oksana Havryliv ist Expertin für verbale Aggression an der Universität Wien. 2022 erschien im Picus Verlag ihr Buch „Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz“ – letzteres verbindet sie gerade besonders mit der Ukraine.

DIE FURCHE: Frau Havryliv, Sie stammen aus der Westukraine. Der Angriffskrieg wird von russischer Seite auch als Befreiung russischsprachiger Ukrainer im Osten des Landes gerechtfertigt. War die russischsprachige Minderheit in der Ukraine unterdrückt?

Oksana Havryliv: Das war nie der Fall. Ich berufe mich da auf eine Kollegin an der Universität Freiburg, die zu der Frage intensiv geforscht hat und die gute Minderheitenpolitik der Ukraine betont. Der leider schon verstorbene ukrainische Dichter und Übersetzer jüdischer Herkunft Mojsej Fischbejn hat das so zusammengefasst: „In der Ukraine haben Minderheiten mehr Rechte als Ukrainer.“ Was es immer wieder gab, waren Aktionen von Regierungsseite, initiiert und unterstützt von der Zivilgesellschaft, um eine stärkere Präsenz des Ukrainischen zu fördern, in den Medien, in der Kultur, in der Musik. Wie in vielen Ländern gibt es auch in der Ukraine gesetzliche Auflagen, dass ein bestimmter Anteil des Musikprogramms im Radio auf Ukrainisch gespielt werden muss. Ich finde das richtig. Denn auch die russische Stiftung „Russki Mir“, deutsch „Russische Welt“, hat versucht, vor allem den Osten der Ukraine mit Kulturprogrammen, mit Popmusik, mit Filmen in ihrer Einflusssphäre zu halten.

DIE FURCHE: Wie haben Sie diese Konkurrenz persönlich erlebt?

Havryliv: Anfang der 2000er Jahre, als mein älterer Sohn drei, vier Jahre alt war, liefen in ukrainischen Kinos Animationsfilme wie „Ice Age“ nur auf Russisch. 2006 ist der erste ukrainisch synchronisierte Kinderfilm erschienen. Die Synchronisation finanziert hat ein estnischer Geschäftsmann, dem wichtig war, dass Kinder in der Ukraine Filme in ihrer Muttersprache anschauen können. Einmal habe ich zufällig gehört, wie zwei russischsprachige Jugendliche die ukrainische Synchronisierung des Films „Kung Fu Panda“ als besser als die russische und sogar besser als die englische Originalfassung lobten. Präsident Selenskyj hat zur hervorragenden Synchronisierung von Filmen beigetragen, indem er als Schauspieler dem Paddington-Bär eine ukrainische Stimme gab.

DIE FURCHE: Wie ähnlich sind sich Ukrainisch und Russisch?

Havryliv: Prinzipiell sind alle slawischen Sprachen ähnlich. Wie gut man sich versteht, hängt mit der geografischen Nähe zusammen. Das ist auch im Deutschen so. In Norddeutschland wird man Holländisch besser verstehen als in Österreich. Aufgewachsen 60 Kilometer von der Grenze zu Polen entfernt, tue ich mir nicht schwer, das Polnische zu verstehen. Man gewöhnt sich an die Eigenheiten des anderen. Am Ähnlichsten ist das Ukrainische aber dem Slowakischen. Und das Russische ist unter den slawischen Sprachen dem Serbischen am nächsten.

DIE FURCHE: Das beschreibt auch die aktuellen politischen Allianzen gut. Was fangen Sie mit dem Begriff „Brudervölker“ an?

Havryliv: Da fallen mir als erstes die russischen „Brat“-Filme, auf deutsch Bruder-Filme, Ende der 1990er-Jahre ein, in denen die Ukrainer als Verbrecher dargestellt werden. „Brat 2“ strotzt vor ukrainophoben und chauvinistischen Szenen, in denen Hass gegenüber Ukrainern geschürt wird. Hier sehen wir, wie verbale und kulturelle Gewalt physische Gewalt vorbereiten kann. Seit Sowjet-Zeiten war es in russischen Filmen üblich, dass die Ukrainer als dumme Bauerntölpel mit komischen Familiennamen dargestellt wurden.

Selenskyj hat verbale und physische Gewalt zurecht auf eine Stufe gestellt. Die verbale Gewalt hat die physische vorbereitet, verstärkt und begleitet sie.

DIE FURCHE: Welche Form von Gewalt ist dieses Heruntermachen anderer?

Havryliv: Verbale Gewalt wird oft nicht als eigenständige Gewaltform anerkannt. Wenn ich in Schulen Kinder frage, was Gewalt ist, antworten sie mit „schlagen, stoßen, schubsen…“ Erst wenn ich explizit frage, ob Beleidigungen nicht schon Gewalt sind, sagen sie: „Ja, auch Worte können weh tun.“ Verbale Gewalt kann physische Gewalt provozieren und vorbereiten. Das kennen wir aus vielen Beispielen: Die Nationalsozialisten haben mit ihrer Sprache Hass auf verschiedene Gruppen geschürt. Vielen Kriegen ist verbale Gewalt vorausgegangen. So war das auch in diesem Krieg. Wobei sich verbale Gewalt nicht auf Beschimpfungen beschränkt, sie kann auch mit neutraler Sprache erfolgen.

DIE FURCHE: Wie?

Havryliv: Mit dem Verbreiten von falschen Gerüchten. Zum Beispiel wenn die Kremlpropaganda die ukrainische Regierung als Faschisten bezeichnet. Oder wenn Sprache als Ablenkungsmanöver benutzt wird: Man redet von Verhandlungen und verstärkt gleichzeitig die Bombardierungen. Oder man definiert humanitäre Korridore und missbraucht sie als Zielscheiben. Wir kennen das Zitat von Ingeborg Bachmann: „Hätten wir das Wort, hätten wir die Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht.“ In diesem Krieg sehen wir, wie die Sprache als Waffe verwendet wird. Ich fand es deswegen sehr wichtig, dass der ukrainische Präsident Selenskyj die Rolle verbaler Gewalt in dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, hervorgehoben hat: „Die Kremlpropagandisten werden die Verantwortung für ihre Taten genauso tragen wie jene, die Bomben werfen.“ Er hat verbale und physische Gewalt zurecht auf eine Stufe gestellt. Denn die verbale Gewalt hat die physische vorbereitet, verstärkt und begleitet sie.

DIE FURCHE: Es gibt indes auch Gegenreaktionen. Der Spruch „Russisches Kriegsschiff, f*** dich …!“, mit dem ukrainische Soldaten auf der Schlangeninsel die Kapitulation ablehnten, ist zum geflügelten Wort geworden. Was sagt auch das über die Rolle von Sprache im Krieg?

Havryliv: Zunächst ist das ein gutes Beispiel für die kathartische Funktion von Beschimpfungen. Da gibt es eine direkte Parallele zum Terrorangriff im November 2020 in Wien und dem wütenden Zuruf „Schleich di, du Oaschloch!“ auf einem Handyvideo. In beiden Fällen waren diese Beschimpfungen eine spontane Reaktion auf das grausame Geschehen. Im Russischen sind Beschimpfungen im Sexuellen verankert, im Deutschen steht das Fäkale im Vordergrund. „Russisches Kriegsschiff, geh sch***!“ gibt die Intention der Beschimpfung im Deutschen am besten wieder. Sowohl in Wien als auch in der Ukraine ist noch eine korporative Funktion dieser Beschimpfungen dazugekommen. Die aggressiven Aufforderungen wurden zum Motto des Widerstands mit der Botschaft: Wir halten zusammen!

DIE FURCHE: Die Sprüche wurden auf T-Shirts gedruckt, lustige Memes kreiert, die ukrainische Post hat eine Sonderbriefmarke mit dem Schlangeninsel-Sujet herausgebracht…

Havryliv: Wenn ein komisches Moment dazu kommt, verstärkt sich die kathartische Funktion. So wie Schimpfen kann auch Humor helfen, die Realität abzuwerten und sich von der Angst zu befreien. Euphemistische, ironisierende Bezeichnungen erfüllen ebenfalls diese Funktion: Wenn ich mit meinen Eltern in Lwiw telefoniere und die Sirene des Fliegeralarms aufheult, sagen sie dazu einfach „Symphonie“.

Havryliv - © Foto: Mario Lang

Oksana Havryliv, ukrainische Germanistin, forscht zu verbaler Gewalt an der Uni Wien.

Oksana Havryliv, ukrainische Germanistin, forscht zu verbaler Gewalt an der Uni Wien.

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