Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Die Politiker lügen nicht
Die anderen können viele Probleme nicht lösen. Wir auch nicht - also könnt ihr getrost uns wählen.
Die anderen können viele Probleme nicht lösen. Wir auch nicht - also könnt ihr getrost uns wählen.
Es ist immer komisch, wenn sich Politiker gegenseitig der Lüge bezichtigen. Die Bezichtigung ist nie wahr, und sie erzielt auch keine Wirkung in der Öffentlichkeit. Die Politiker lügen nämlich nicht, sie sagen nur nicht die Wahrheit.
In einem alten Aphorismus habe ich formuliert: „Die Politiker schenken uns den reinsten Wein ein — ohne Beimischung von Wahrheit.“ Ganz so schlimm ist es nicht, denn sie servieren uns häufig Halbwahrheiten.
Der Mechanismus ist immer derselbe. Eine Partei, die nicht an der Macht ist, verspricht den Bürgern das Blaue vom Himmel, wenn man sie an die Macht bringt, und beschuldigt die Regierenden, das Besagte nicht geholt zu haben - was der Wahrheit entspricht. Kommt sie an die Macht, kann auch sie das Blaue vom Himmel nicht holen - und wird von der Opposition - zu Recht - wegen des Nichteinhaltens ihres Versprechens kritisiert.
Mein Professor für Statistik sagte zum Beginn seiner Vorlesungen: „Es gibt drei Stufen von Lügen - die einfache Lüge, die große Lüge und die Statistik.“ Dabei ist die Statistik nur eine der Quellen, auf die sich die Politik stützt. Was sollen die armen Politiker auch tun? Sollen sie sagen: „Die anderen können viele Probleme nicht lösen. Wir auch nicht - also könnt ihr getrost uns wählen, wir sind ja nette Menschen“, oder: „Die Regierung macht viele Fehler. Wenn Sie uns wählen, werden wir ganz andere Fehler machen“?
In einem alten jüdischen Witz läßt die Händlerin Sara ihren frommen, weltfremden Mann den Laden hüten, solange sie in der Küche zu tun hat. Sollte was Außerordentliches passieren, möge er sie rufen. Sara ist mit dem Kochen fertig, kommt in den Laden, sieht, wie zwei Kosaken sich die Taschen mit Wa-’ ren vollstopfen, und ihr Mann sieht ruhig zu. Sie nimmt den Dieben die Sachen weg, vertreibt sie und fragt den Mann aufgebracht, warum er sie nicht gerufen habe. „Es ist doch nichts Außerordentliches dabei. Sollte ein Rabbi klauen, das wäre etwas Außerordentliches — wenn Kosaken klauen, ist das doch normal!“
Also, sagt ein Politiker nicht die Wahrheit, ist es nichts Außerordentliches und kann niemanden beeindrucken. Im Gegenteil, die Öffentlichkeit wird beunruhigt, wenn sie von einem Politiker die Wahrheit hört.
Die Politiker in totalitären Ländern lügen schon gar nicht. Beweis: Egal, was sie sagen, niemand korrigiert sie. Die öffentliche Meinung in diesen Ländern darf nicht öffentlich geäußert werden, auch wenn sie öffentliches Geheimnis ist. Somit ist alles, was die Staatsmänner dort sagen, geltende Wahrheit. Sie gilt so lange, bis sie von denselben Staatsmännern oder von deren Nachfolgern durch eine andere, meistens entgegengesetzte, absolut geltende Wahrheit ersetzt wird.
Nun, wir sind mit den nichtabsoluten, unvollständigen, korrekturbedürftigen Wahrheiten der demokratischen Politiker viel besser dran. Wir können uns sogar, mit etwas Mühe, aus den Halbwahrheiten der Politischen Opponenten die ganze
Wahrheit zusammenbasteln. Wer sie von Politikern verlangt, beweist, daß er absolut unpolitisch denkt.
Aus: „Gut siehst du aus". Alltag satirisch.
Von Gabriel Laub. Verlag Langen Müller, München 1994. 291 Seiten, öS 2}},-.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!