Statue - © Foto: Steve Barker / pixabay

Homo contrarius – Gedanken zum Menschen

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Wie kann es sein, dass der freie, selbstbestimmte, aufgeklärte Mensch Not und Hunger, Leid und Elend zulässt? Ist es tief in ihm verankert, egoistisch, ungerecht, gewaltbereit zu sein? Ein Essay - entstanden im Rahmen des Schüler(innen)-Essay-Wettbewerbs "Theolympia".

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Wie kann es sein, dass der freie, selbstbestimmte, aufgeklärte Mensch Not und Hunger, Leid und Elend zulässt? Ist es tief in ihm verankert, egoistisch, ungerecht, gewaltbereit zu sein? Ein Essay - entstanden im Rahmen des Schüler(innen)-Essay-Wettbewerbs "Theolympia".

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Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat, aber zugleich ist er das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist, aufrecht und ein Gebet auf den Lippen.“ (Viktor Frankl, Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager)

„Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist.“ Der Mensch, definiert durch seine Selbstbestimmung, seine Möglichkeit zur Selbstentfaltung. Nicht umsonst gibt es das Sprichwort: Man ist, wofür man sich hält. Oder?

Doch lässt sich eine solche Selbstverwirklichung mit einem Gott oder den heutigen Erkenntnissen über das Unterbewusstsein vereinbaren? Und gibt es wirklich so etwas wie Freiheit, oder ist der Mensch letztendlich doch immer bestimmt durch sein Umfeld, seine Erziehung? Wie kann es sein, dass der freie, selbstbestimmte, aufgeklärte Mensch Not und Hunger, Leid und Elend zulässt? Ist es tief in ihm verankert, egoistisch, ungerecht, gewaltbereit zu sein? Gibt es überhaupt so etwas wie DEN MENSCHEN, eine allgemeingültige Definition, ein Modell, das die gesamte Menschheit in all ihrem Facettenreichtum beschreibt? Oder vertröstet sich DER MENSCH mit der Frage nach seinem wahren Sein, seiner Bestimmung, letztendlich nur über die Probleme hinweg, bei deren Erschaffung er eine wesentliche Rolle gespielt hat?

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Im Folgenden soll ein Versuch gewagt werden, diesen Gedanken und Zweifeln auf den Grund zu gehen, um sich an der Beantwortung der Frage „Was ist der Mensch?“ zu versuchen.

Der Mensch. Für die Wissenschaft noch immer großteils ein Mysterium, ein Forschungsobjekt, das es zu erklären gilt. Für die Wirtschaft ein Kapitalfaktor, eine Ressource, eine Zielgruppe. Und für die Religionen? Erlösungsbedürftige Schäfchen, eine demütige Anhängerschaft oder doch eher eine Gemeinschaft, die nach einer besseren, gerechteren Welt strebt? Es gibt vermutlich mindestens so viele unterschiedliche Sichtweisen auf den Menschen wie Menschen, jede einen Deut anders, jede geprägt durch den definierenden Menschen selbst. Also fragt sich, ob es ihn gibt, irgendwo da draußen, DEN MENSCHEN. Oder ob er nur eine Erfindung ist, ein verzweifelter Versuch einer zu rationalisierten Spezies, das eigene Dasein, den eigenen Tod zu verschmerzen. Wer sind wir? Gibt es ein Wir? Oder nur ein Du und Ich, ein Sie und die Anderen, ein Die Da und Der Da? Müssen wir uns selbst finden? Oder können das andere für uns tun, kann nicht irgendein weiser Philosoph den Menschen definieren, uns sagen, wer wir sind, damit wir beruhigt und erhellt weiterleben können?

Der Mensch. Eine Formulierung, die so distanziert, so förmlich klingt. Fast schon wie ein staubiger Fachbegriff aus irgendeinem alten Lexikon. Sind wir das, der Mensch? Oder sind wir einfach Menschen, jeder ein bisschen anders, ein bisschen besonders, ein bisschen einzigartig? Der Mensch. Ein Widerspruch an sich, wie auch Viktor Frankls Zitat beweist. Schließlich sind wir die Wesen, die Kriege anzetteln, Städte niederbrennen, morden und zerstören, und doch sind auch wir es, die Frieden schließen, Leben schenken, wiederaufbauen, verzeihen. Wir sind im ewigen Widerspruch unserer Menschlichkeit gefangen, nicht fähig, daraus auszubrechen, uns unter dem Begriff DER MENSCH zu einen, uns in eine Definition zwängen zu lassen, die erst durch den lesenden Menschen selbst an Bedeutung gewinnt. Aber vielleicht ist es genau das, was den Menschen auszeichnet: Seine Undefinierbarkeit, seine Widersprüchlichkeit, die Unterschiedlichkeit, die jenseits von biologischen Gattungsmerkmalen besteht.

Der Mensch. Er ist ein Wesen geformt aus Widersprüchen, aus Gegensätzen. Er ist die Vereinigung von dem scheinbar Unvereinbaren, kann alles sein… Oder nicht.

Der Mensch. Er ist ein Wesen geformt aus Widersprüchen, aus Gegensätzen. Er ist die Vereinigung von dem scheinbar Unvereinbaren, kann alles sein… Oder nicht. Oder er ist bestimmt durch sein Unterbewusstsein, ein Sklave seiner Triebe, wie Freud möglicherweise sagen würde, und seine anscheinende Freiheit und Selbstbestimmtheit nur eine Illusion, die ihm von den Tiefen seines Gehirns vorgegaukelt wird. Ja, das ist möglich. Manch einer würde vielleicht sogar so weit gehen, zu behaupten, es sei wahrscheinlich. Aber das mit der Wahrscheinlichkeit ist ohnehin so eine Sache. Wie wahrscheinlich war es, dass aus dem Urknall, aus einem Chaos von unvorstellbar vielen Atomen und Molekülen, aus Asche und Staub und Gas, dass aus all dem einmal Leben entstehen sollte? Ja, unser Unterbewusstsein ist wichtig, und es ist wohl unmöglich zu sagen, ob die Entscheidungen, die wir treffen, wirklich WIR treffen, und nicht das uns unausweichlich anhängende Gewirr aus Erinnerungen, Traumata und unerfüllten Sehnsüchten in unserem limbischen System. Und doch gibt es das Bewusstsein, das Gefühl für ein Hier und Jetzt, für ein Selbst, und dieses Gefühl mag es womöglich sein, das uns in unserem tiefsten Inneren tatsächlich ausmacht.

Der Mensch. Ein Wesen mit Bewusstsein, mit Unterbewusstsein, ein Wesen mit einer unvorstellbaren Vielfalt. Dennoch – ein freies Wesen? Ein selbstbestimmtes, sich selbst verwirklichendes Wesen? Was ist mit den ökonomischen Umständen, mit den Familien, in die wir hineingeboren werden? Gibt uns all dies nicht zumindest ein Stück weit vor, wer wir sind, wer wir zu sein haben? Und was ist mit Gott? Wie kann Allmacht und Güte vereinbar sein mit einer Freiheit des Menschen, einer Freiheit zum Stehlen, zum Verletzen, zum Töten? Wie kann ein liebender Vater zulassen, dass wir, um auf Viktor Frankls Zitat zurückzugreifen, Gaskammern bauen? Uns gegenseitig abschlachten? Der Mensch, ein Wesen im Spannungsfeld zwischen Gut und Böse, Wahr und Falsch, Zweifel und Gewissheit. Ein Spannungsfeld, das ihn zu zerreißen droht. Unter dessen Druck, dem Druck der Verantwortung, der Mensch zerrissen ist, allein, ängstlich. Und doch nicht allein. Denn er bleibt Mensch unter Menschen. Ob wir frei sind oder nicht, es ist eine schwierige Frage, eine Frage, welche die Philosophie schon seit langem beschäftigt. Determinismus, Indeterminismus. Eine Marionette in einer kausalen Kette von Ereignissen oder ein freier, verantwortlicher Drahtzieher? Und was wäre uns lieber? Ja, wir sind abhängig von unserem Umfeld, unserer Umwelt. Die Freiheit des Einzelnen ist eine Freiheit unter vielen, einer ganzen Seifenblase an Freiheiten, die sich gegenseitig zu verdrängen versuchen, mehr Platz wollen, wachsen, und doch nicht zulassen dürfen, dass die Blase platzt. Eine Freiheit unter vielen. Mag man auch annehmen, der Mensch sei frei, so muss man zugleich realistisch bleiben. Seine Freiheit ist endlich. Er kann sich entfalten – oder es versuchen – und er kann sich weiterentwickeln – oder zumindest danach streben – und er kann sich selbst verwirklichen – oder bei dem Versuch kläglich scheitern.

Der Mensch. Grausam, egoistisch, verbittert, manipulativ. Gleichzeitig auch hoffnungsvoll, naiv, aufopferungsvoll, empathisch. Macht ihn das fundamental gut? Oder bleibt der Mensch dadurch einfach, was er ist: Fundamental menschlich. Eine Menschlichkeit, die offen ist. Offen für alles, was wir waren, was wir sind, was wir sein werden. Vielleicht ist es gar nicht an uns, DEN MENSCHEN zu definieren. Vielleicht reicht es schon, wenn wir lernen, unsere Widersprüchlichkeit anzunehmen und mit unserer Menschlichkeit umzugehen.

Hanna Sonleithner hat mit diesem Text - ex aequo mit Antonia Hoffmann - den 1. Platz beim zweiten "Theolympia"-Essaywettbewerb erreicht. Die 18-Jährige ist Schülerin im Bundesrealgymnasium Traun.

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