6753631-1967_37_16.jpg
Digital In Arbeit

Neues Lehrbuch der Sozialgeschichte

Werbung
Werbung
Werbung

Die längst fällig gewesene Institu-tionallisierung der differenten sozialwissenschaftlichen Studienrichtungen in Österreich bedarf nicht nur einer ausreichenden personellen Ausstattung, sondern endlich auch eines angemessenen Dargebotes an Lehrbüchern, die einerseits wissenschaftliches Niveau haben, anderseits aber jenseits von Gelehrtendialog in die einzelnen Wissenszweige einführen, zu welchem Zweck der Komplex von Fakten und Theorien im Sinn hochschulpädagogischer Vorstellungen systematisch geordnet und definitorisch transparent gemacht sein muß. Das gilt auch für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die sich nun, nach der Bedeutungsverringerung der Historisehen Schule der Nationalökonomie auf den Hochschulen jahrelang ohne angemessene Position, wieder als eigenständiges und gewichtiges Fach neben den bereits etablierten eigentlichen sozialwissenschaftlichen Fächern einen Platz gesichert hat. Gerade das Bemühen, die sozialen Fächer vor allem in ihrem Wirklich-keitsbezug darzustellen, macht eine Unterstützung der makroökonomischen Interpretationen durch Hinweise auf die jeweiligen und determinierenden historischen Daten und den Ausweis der historischen Strukturen notwendig, in deren Einflußbereich sich die sozialen und ökonomischen Vorgänge vollziehen.

“In der Mitte des ersten Studien-abschnittes, in dem sich nunmehr die neu eingerichteten aufwachsenden sozialwissenschaftlichen Studienrichtungen befinden, legt der Extraordinarius für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Hochschule für Welthandel in Wien, Alois Brusatti, ein Buch vor, dessen Art der Darstellung und Periodisierung der historischen Abläufe die pädagogischen Aspekte erkennen läßt, unter denen das Werk abgefaßt und das Material diszipliniert wurde. Unter Bedachtnahme auf den erforderlichen Gegenwartsbezug des vorgelegten Materials und die zeitliche Einbindung der modernen sozialen und sozialökonomischen Theorien hat sich der Verfasser auf die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des industriellen Zeitalters beschränkt, also auf jene Phase der Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft, welche die ökonomischen und sozialen Strukturen der Gegenwart und deren theoretische Reflexionen begründet hat.

Professor Brusatti will jedoch nicht allein die ökonomisch und sozial relevanten wirtschaftlichen Prozesse in jenem Zeitraum, der als industrielles Zeitalter klassifiziert

wurde, in pointierender Hervorhebung darstellen, sondern geht noch weiter zurück und greift auf die konstitutiven Bedingungen jenes raumzeitlichen Phänomens zurück, das mit „Industrieller Revolution“ klassifiziert wird. Auf diese Weise bietet der Verfasser einen Einblick sowohl in die geistige Entwicklung, die im Rahmen einer Rationalisierung des Selbstversorgungsprozesses der Gesellschaft, einer Transformation von naturphilosophischen Erkenntnissen in Naturgesetze und über diese in technologisch-ökonomische Maßnahmen, vom sogenannten Mittelalter wegführt, als auch in die technologischen Entwicklungs-phasen, deren Aufwuchs und maschinell-organisatorische Vergegenständlichung im Rückblick als „revolutionär“ gekennzeichnet wird. Daneben werden auch die Sekundärbedingungen beziehungsweise die Katalysatoren des Industrialisierungsprozesses dargestellt, die Entleerung des Dorfes, verbunden mit der Agglomeration in den Zentren der neuen Fertigungsweisen, die gewachsene Mobilität des Menschen, der sich nun in Nutzung der neuen Freiheit in Richtung zum „besten Wirt“ bewegen kann und, um überleben zu können, bewegen muß. Im Sinne einer strukturfunktionalen Sicht der sozialen Prozesse und Gebilde werden auch die neuen Wirtschaftsgebilde im Hinblick auf ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Versorgung untersucht.

Zur Ortung der jeweiligen Analyse, aber auch des Studiums, dient die Periodisierung des wirtschafts-und sozialgeschichtlichen Ablaufes in 1. Industrielle Revolution und Hochliberalismus, 2. Imperialismus und Nationalismus, 3. Zeit nach dem ersten Weltkrieg und Nachkriegsprosperität, 4. Weltwirtschaftsdepression, 5. Die Entwicklung 1948 bis zur Gegenwart.

Jede der genannten Entwicklungsphasen hat arteigene Entwicklungsbedingungen, kennzeichnet eine bestimmte Weise der Industrialisierung und gesellschaftlicher Versorgung und hat ihren Reflex in fakten-und strukturkonformen sozialen und ökonomischen Theorien gefunden.

Der Versuch, Sozdal-Wirtschafts-geschiehte je für sich (also isoliert) darzustellen, wird nicht unternommen, da der Verfasser davon ausgeht, daß die ökonomischen Prozesse ohnedies, infolge der Verdichtung der wirtschaftlichen Vorgänge, auch (makrojsoziale Prozesse sind, ganz abgesehen davon, daß Wirtschaft an sich heute als sozialer Vorgang verstanden werden muß, nicht nur als Mensch-Ding-Beziehung, sondern

auch als eine Mensch-Mensch-Relation.

Einige Hinweise zu Einzelheiten seien dem Referenten gestattet:

x) Ein Sachregister, das einer zweiten Auflage unschwer angefügt werden könnte, würde die pädagogische Effizienz des Buches sehr fördern.

x) Der Ausdruck „Bourgeoisie“ (S. 133) entstammt weil nur als Gegenbegriff in einer bestimmten historisch-regionalen Situation

denkbar, der Zweiklassenkampfvorstellung des Marxismus und ist für sich eigentlich ohne Inhalt.

x) Riehl ist kaum als Wissenschaftler (im Sinn moderner Vorstellungen) anzusprechen (140); noch weniger Georg Büchner, dessen wortgewaltige Aussagen, angesichts der „Elenden“ seines Milieus formuliert, hohe Literatur sind.

x) Die Haltung Bismarcks in der Frage der Begründung der modernen Sozialpolitik ist nicht „eindeutig christlich“, sondern eher Ausdruck eines etatistisch-patriarchalischen Denkens, wenn nicht insoweit sogar marxistisch, als er versucht, den ihm gefährlich scheinenden und in der Sozialdemokratie verbandlich dargestellten „Überbau“ durch Änderung des Unterbaues (der Versorgungsbedingungen) zu berichtigen, also rebellische Ideen durch Anbot von Sekurität zu manipulieren.

x) Die Liquidation der christlichsozialen Partei Österreichs beginnt mit dem Tod Luegers. Was sich nachher aus der Erbmasse entwik-kelte, hatte mit christlich wenig und mit sozial kaum etwas zu tun und lebte nur von der weltanschaulichen Unduldsamkeit des Austromarxis-mus, der (als negative Bezugsgruppe) permanent die bürgerlichen Parteien förderte und für sie jene Energien produzierte, die sie zum Uberleben benötigten.

x) Die Inflation in der Ersten Republik hat zum Teil auch zur Entschuldung der Landwirtschaft beigetragen, da die von den Bauern aufgenommenen Kredite wohl dinglich, nicht aber kaufkraftgesichert waren (204). Auf diese Weise hatte die österreichische Inflation den un-deklarienten Charakter einer Art von partieller „Bauernbefreiung“. Bei der deutschen Inflation (245) wäre auf deren Eigenart (Inflation mit „zurückgestauten Preisen“) hinzuweisen.

x) Seit Johannes XXIII. kann eine so enge Verbindung von katholischer Soziallehre und Neoliberalismus, wie sie der Verfasser annimmt, nach Ansicht des Referenten nicht mehr aufrechterhalten werden, es sei denn, man setzt die Soziallehre der (katholischen) Kirche mit gewissen Einseitigkeitsinterpretationen gleich.

Diese Bemerkungen, die wahrscheinlich durch die andersgeartete fachliche Sicht des Referenten begründet sind, stellen keinen Abstrich an der eminenten pädagogischen Bedeutung des Buches dar, das in der Klarheit der Formulierungen, in der Art der lehrmäßigen Reduktion des kaum mehr übersehbaren StofT fes und in der Fülle der gebotenen personellen Hinweise und Materialien alle jene Vorzüge aufweist, die man von einem akademischen Lehrbuch fordern muß.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung