12 Wochen verändern die Welt

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Zwischen Oktober und Dezember 1989 stürzte der Kommunismus. 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges herrscht statt Freude Ernüchterung. Serie Teil I.

Kaum ein Ereignis des vergangenen Jahrhunderts hat so tiefe Spuren im Machtgefüge der globalen politischen Landschaft hinterlassen wie der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch des kommunistischen Staatenbundes 1989/90. Das ist viel und gleichzeitig doch viel zu wenig, angesichts der Möglichkeiten, von denen die Welt damals träumte: Freiheit, Gerechtigkeit, Glück. Einige Sentenzen von damals hätten bis heute Geltung, aber sie liegen glatt und abgegriffen vor uns, nachdem sie 20 Jahre lang dem Sandstrahlgebläse des politischen Mainstreams ausgesetzt waren und damit ihrer emotionalen Quintessenz – der Hoffnung – beraubt worden sind. Was ist da noch von Emotion zu spüren, wenn einer sagt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Es stürzen keine Mauern, es fallen keine Diktaturen mehr. Die Revolution hat ausgeträumt. Das „Ende der Geschichte“, mit dem Francis Fukuyama sich selbst und die historische Stellung der Gegenwart anno 1989/90 überhöhen wollte, ist abgesackt zu einem Ende der Illusionen von einer Gesellschaft, die sich nach einer Neuformierung sehnte.

Der verlängerte Kalte Krieg

Geblieben ist für viele Kritiker dagegen ein duales Weltbild, das statt Ost und West heute Gewinner und Verlierer identifiziert und auseinanderdividiert. „Nicht der Osten verschwand, sondern der Westen“, sagt der Autor und Essayist Ingo Schulze und er meint damit wohl, dass der Wegfall des ideologischen Gegners am Ende gar keine Ideologie mehr am Leben ließ, die den Sinn der Existenz in eine menschliche und gesellschaftliche Idee gekleidet hätte. „Die Globalisierung schaffte den Sozialstaat ab“, sagt Schulze und beklagt eine verpasste Chance des Westens.

Bleibt also nur ein vergangener Traum übrig und manche bittere Träne der Rückschau angesichts der Freudentränen jener Menschen, die vor 20 Jahren glaubten, ein gelobtes Land im Westen zu betreten und das eigene Land im Osten in eine bessere Zukunft zu führen?

In den kommenden Wochen wird DIE FURCHE in der Serie „1989, Untergang und Aufbruch“ zur 20-jährigen Wiederkehr der entscheidenden Wochen des kommunistischen Niedergangs zwischen Oktober und Dezember 1989 die Hauptfragen der heute zutag liegenden Ernüchterung analysieren, ohne dabei das Hauptfaktum aus den Augen zu verlieren: Dass selten in der Menschheitsgeschichte sechs Diktaturen in weniger als drei Monaten zusammengebrochen sind, in einer zumeist friedlichen Selbstbehauptung von insgesamt über 65 Millionen Menschen.

Diese Geschichte beginnt im tiefen Inneren des Sowjetreiches, das dem ZK-Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Michail Gorbatschow, 1985 zur Lenkung überantwortet worden war. Gorbatschow sieht sich mit einem wirtschaftlich niedergehenden Reich konfrontiert: Die Güterproduktion sinkt, der Bürokratieaufwand steigt, weder der Staatshaushalt noch der erfolglose Feldzug der Russen in Afghanistan sind noch zu finanzieren. Gorbatschow greift zu dem Mittel, das er für das einzig mögliche hält: Eine Privatwirtschaft sozialistischer Prägung zu schaffen: Die Perestroika. Doch Gorbatschow gibt mehr als etwa die chinesische Führung zu geben bereit ist: Er verordnet Glasnost, die relative Freiheit der Meinung und Presse. Dieses Mix entfaltet bis 1989 eine von allen Beteiligten unterschätzte Dynamik der Öffnung. Eine wichtige Rolle spielt im Herbst 1989 auch eine sich auflösende Befehlsstruktur, von der vor allem die treuesten Verbündeten der Sowietunion betroffen sind: Erich Honecker (DDR), Gustáv Husák (CSSR) und Todor Schiwkow (Bulgarien). Sie erhalten plötzlich keine Anweisungen mehr aus Moskau. Durch diese später „Sinatra-Doktrin“ genannte Formel, nach der jeder Staat seinen Weg selbst bestimmen solle („May Way“), werden die politischen Apparate der Satellitenstaaten aus ihrer Umlaufbahn geschleudert.

Führungslose Satelliten

Auf Befehle aus Moskau konditionierte Kader sollen nun plötzlich alleine handeln. Doch das können sie nicht. In dieses Vakuum der Planlosigkeit und Entscheidungsangst stoßen die Bürgerbewegungen: Am 2. Oktober 1989 kommt es in Leipzig zur ersten Montagsdemonstration, fünf Wochen später fällt die Berliner Mauer. Am 23. Oktober wird in Ungarn die Republik ausgerufen. Am 10. November stürzt Bulgariens Schiwkow. Im Dezember 1989 wird Rumäniens Diktator Nicolae Ceau¸sescu hingerichtet, in Prag wird Václav Havel zum Präsidenten gewählt.

Soweit die gerafften historischen Fakten. Was bleibt, sind Fragen, die 20 Jahre nach diesen Ereignissen den Diskurs in die Gegenwart ziehen und die in den kommenden Wochen in der FURCHE-Serie behandelt werden sollen.

Hat beispielsweise der Zusammenbruch des Kommunismus dem Individualismus und der entsolidarisierten und unkontrollierten Marktwirtschaft die Herrschaft gebracht? Anders gefragt: Brauchte die Marktwirtschaft einen Gegner, um sozial bewusster zu handeln? So wie der dem Stalinismus in Russland in den 20er Jahren zugeschriebene Erfolg die USA in der Krise 1929 bis 1936 zu Sozialreformen ermunterte. So wie die Angst vor dem Kommunismus Ludwig Erhard auf den Plan zur Sozialen Marktwirtschaft brachte.

Prägung für Sozialdemokratie

Weiters: Hat das Scheitern des sozialistischen Gesellschaftsentwurfs maßgeblich zur aktuellen Krise der Sozialdemokratien in Europa beigetragen, welche derzeit die politische Nachfolgegeneration der Wende, die Faymanns, Steinmeiers und Royals überrollt?

Vieles harrt auch noch der öffentlichen Aufarbeitung: Was geschah in den Machtzentren vor und während der Revolution, welche Rolle spielten die Geheimdienste bei der Förderung der Volksbewegungen? Vor allem aber: Wie reagierten die westlichen Regierungen angesichts der massiven Machtdemonstration des Volkes? Sicher, am Brandenburger Tor hofierte die Politik die Millionen. Doch hinter den Kulissen waren die Sorgen groß. Die Geschichtsschreibung hat einige bedenkenswerte Dokumente zutage gefördert. Etwa das Schreiben des deutschen Bundesnachrichtendienstes an die Regierung Kohl: „Die Bürgerbewegungen streben eine Nivellierung der Gesellschaft an. Sie verfolgen den ‚dritten Weg‘. Sie stehen einem Neubeginn im Wege. Zentrale Frage wird sein: Kann die Arbeit der Bürgerkomitees unterbunden werden?“

Zwölf Wochen lang werden Historiker, Politiker und Zeitzeugen in der FURCHE Antworten auf diese Fragen geben. Den Beginn macht in der ersten Folge Bärbel Bohley (rechts), eine der prominentesten Gründerinnen des „Neuen Forum“. Mit ihr skandierten Hunderttausende 1989 den Schlachtruf eines Aufbruchs, der 40 Jahre Sozialismus dem Untergang weihte: „Lasst uns raus, lasst uns raus.“

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