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Nach dem Putschversuch zu lebenden Toten gemacht: Der Leidensbericht als Roman

Am 10. Juli 1971 fand in Marokko ein Putschversuch gegen König Hassan II. statt. Zwei Dutzend blutjunge Offiziersschüler waren von ihren Vorgesetzten zum Königspalast transportiert worden. Dort gaben sie ihnen Gewehre und sagten ihnen: "Unser König ist in Gefahr, retten wir ihn! Die Feinde haben sich als Gäste und Golfspieler verkleidet!" Die Jungen kamen erst gar nicht zum Schießen, der Putsch scheiterte. "Wir hatten nichts zu sagen, waren nur Soldaten, Schachfiguren, unbedeutende Unteroffiziere, die keine Initiative ergreifen konnten. Mit auf den Rücken gebundenen Händen wurden wir in die Lastwagen geworfen, wo sich Tote und Verwundete anhäuften. Mein Kopf war zwischen zwei toten Soldaten eingeklemmt. Ihr Blut rann mir in die Augen. Es war noch warm. Sie hatten beide Scheiße und Urin ausgeschieden. Hatte ich noch Anrecht auf Ekel? Ich erbrach Galle. Woran denkt ein Mensch, dem das Blut anderer über das Gesicht rinnt?"

Die Soldaten wurden nach Südmarokko gekarrt und in ein unterirdisches Gefängnis gebracht, mit Zellen, in denen nur Kinder stehen konnten. Lichtlos. Einer nach dem anderen starb an den Stichen der Skorpione, die die sadistischen Wärter in die Zellen schleusten, an Unterernährung (das Essen bestand Tag für Tag aus gekochten Bohnen und Trockenbrot) oder an Wahnsinn. Einer der wenigen, welche die 18 Jahre, genau 6.663 Tage, überlebten, berichtete dem französisch schreibenden marokkanischen Schriftsteller Taliar Ben Jelloun von dieser Zeit des Grauens. Ben Jelloun, deutschsprachigen Lesern bereits durch fünf übersetzte Bücher zugänglich, hat daraus einen Roman gemacht: "Das Schweigen des Lichts". Obwohl der der in Ich-Form abgefasste Bericht schlaflose Nächte verursachen könnte, läse man nur das, was Menschen anderen Menschen antun, ist er viel mehr, nämlich ein Buch der Hoffnung.

Der einstige junge Soldat, der schließlich als physisch Gebeugter durch internationalen Druck freikam, hat in tiefster Erniedrigung zu Grundeinsichten des Lebens gefunden, die anderen vielleicht nie zuteil werden oder erst am Ende ihres Lebens, zu spät: "Die meisten, die umkamen, sind nicht an Hunger gestorben, sondern an Hass. Hass macht einen klein und schwach. Er höhlt von innen aus und greift das Immunsystem an. Wer Hass in sich trägt, wird unweigerlich von ihm zermalmt. Eine so einfache Sache habe ich erst durch diese harte Erfahrung begriffen." Er lernte weiter, jeder Hoffnung abzuschwören, denn die Gefangenen haben keinen Kontakt zur Außenwelt; lange Zeit weiß niemand etwas von ihrem Schicksal. Auch Erinnerungen verbannt er, sie würden ihn in den Irrsinn treiben: "Ich begriff, dass die Zeit nur in der Bewegung der Wesen und der Dinge Sinn machte. Wir befanden uns in einer bewegungslosen Gegenwart. Sollte jemandem das Unglück widerfahren, zurück oder gar nach vorne zu blicken, würde er seinen Tod beschleunigen. Die Gegenwart ließ nur Platz für ihren eigenen Ablauf. Sich an den erstarrten Augenblick halten und nicht daran denken. Sicherlich hat mir diese Erkenntnis das Leben gerettet."

In konventioneller muslimischer Religiosität aufgewachsen, entdeckt er die Kraft des Glaubens. "Ich sagte mir: Glauben heißt, keine Angst zu spüren. Selbstmord ist keine Lösung. Die Prüfung ist eine Herausforderung. Widerstand ist Pflicht, doch keine Zwangsaufgabe. Das absolut Wichtigste ist, die Würde nicht zu verlieren. Das ist es: Die Würde ist das Einzige, was mir, was uns geblieben ist. Ich war zu einem Zustand der Entsagung und inneren Entbehrung gelangt, der mir beachtlichen Trost gab. Ich, der ich früher immer behauptet hatte, der Mensch verändere sich nicht, ich war ein anderer geworden. Ich hatte mit einem anderen Ich zu tun, war von allen Fesseln des oberflächlichen Lebens befreit, hatte keinerlei Bedürfnisse, verlangte keinerlei Nachsicht. Ich war nackt, das war mein Sieg."

Die Gefangenen sahen das Tageslicht nur, wenn sie einen der Ihren bestatteten. Dabei gerieten sie an den Rand der Erblindung. Der Ich-Erzähler lernt die Kraft des Schweigens: "Ich meditierte und begriff, dass nach und nach Schleier fielen und die Finsternis weniger dicht wurde, bis ich einen winzigen Lichtstrahl erblickte. Vielleicht habe ich ihn auch erfunden, ihn mir nur vorgestellt. Ich überzeugte mich davon, dass ich ihn sah. Die Stille war ein Weg zurück zu mir selbst. Ich war Stille. Mein Atem und mein Herzschlag wurden Stille." In seiner Jugend hatte er viel gelesen. Aus dem Schweigen tauchen in seinem Gedächtnis Seiten um Seiten früher gelesener Texte auf, die er den Mithäftlingen in der Dunkelheit rezitiert: Camus, Balzac.

Das Buch hat wenig äußere Handlung, dafür um so mehr innere. Der Gepeinigte lernt nicht nur sich selbst kennen, annehmen, ja lieben, er beobachtet die Reaktionen der Mitgefangenen, und da tut sich ihm das ganze Spektrum menschlicher Niedertracht, aber auch Größe auf. Schwierig ist schließlich die Wiedereingliederung in ein normales Leben: "Ich war vierzehn Zentimeter kleiner und hatte einen Buckel. Mein Brustkorb war verformt und meine Atmung behindert. Das Haar hatte sich gut gehalten, die Haut war verknittert. Beim Gehen zog ich das rechte Bein nach. Die Worte, die ich aussprach, waren wie einer Reinigung unterzogen. Ich wählte sie mit Bedacht. Ich sprach wenig, doch mein Kopf arbeitete unaufhörlich. Ich war ein Neugeborener, der sich seiner Vergangenheit entledigen musste. Ich beschloss, mich nicht mehr zu erinnern." Dieses Buch ist ein großes Zeugnis für die Kraft, die im Menschen wohnt, wenn er sich den Geist nicht brechen lässt: Keine Vergnügungslektüre, sondern aufrüttelnd, erschütternd, Staunen erregend.

Das Straflager wurde 1991 auf internationalen Druck geschlossen. Stellt sich die Frage, ob der Schriftsteller Tahar Ben Jelloun legitim gehandelt hat, als er die Erinnerungen des Häftlings in Ich-Form zu Papier brachte und den Text einen Roman nannte. Doch wenn das Grauen packen soll, muss es in einem überzeugend sprachlichen Gewand daherkommen. Ben Jelloun gab ihm ein lakonisches, unsentimentales Gewand.

Das Schweigen des Lichts

Roman von Thar Ben Jelloun

Berlin Verlag, Berlin 2001

252 Seiten, geb., e 19,50

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