60 Jahre neues Bayreuth

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Am 25. Juli eröffnen die Bayreuther Festspiele mit einer Neueinstudierung von "Tannhäuser“. Vor 60 Jahren entfachte Richard Wagners Enkel Wieland eine Revolution am Grünen Hügel.

2011 ist der 60. Jahrestag der Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, des großen Zivilisationsbruchs im 20. Jahrhundert. Mit seiner Theaterrevolution am Grünen Hügel hob Wieland Wagner den einst über das Lebenswerk Richard Wagners verhängten Denkmalschutz auf und löste damit eine internationale Wagner-Renaissance aus. Eine 1951 entfachte weltweite Diskussion entzündete sich am Tabula-rasa-Effekt der modernisierten Wagner-Szene, an der neuen psychologisch fundierten Regieführung und an der neuen Sängergeneration. Die Avantgardeposition, in welche Wieland Wagner die Bayreuther Festspiele mit seiner Dramaturgie und seinem kühnen Inszenierungsstil katapultierte, wurde zum Synonym für Neu-Bayreuth. Diese Ära war repräsentatives kulturelles Aushängeschild des westdeutschen Wirtschaftswunders. Wieland Wagner avancierte Ende der Fünfzigerjahre zum Mythos, zur einsamen und in seinem Metier konkurrenzlosen europäischen Ikone der Nachkriegskulturgeschichte. Seine Reformen ebneten den Weg für Persönlichkeiten wie Götz Friedrich, Patrice Chéreau, Jean-Pierre Ponnelle, Harry Kupfer und Heiner Müller, die ab den Siebzigerjahren in Bayreuth engagiert wurden.

Eine kritische Auseinandersetzung verlangt, anders als vereinfachende, reduzierende Mythenpflege, einen zweiten Blick, nämlich in die Tiefe der Vergangenheit. Und anders als vielleicht im Falle von Hagiografie, Polemik und Kolportage, kann es höchst spannend sein, Widersprüche, Ambivalenzen, Fragwürdigkeiten oder auch Irrwege in der Komplexität eines Künstlerlebens nicht auszublenden, sondern diesen nachzuspüren. Unter den Vorzeichen der kollektiven Geschichtsvergessenheit wurde die Kultur zum Fluchtpunkt und - mangels Fernsehen oder digitaler Medien - zu einem besonders identitätsstiftenden Medium.

Eine Stunde Null hat es nicht gegeben

Aus der zeitlichen Distanz, unter der Perspektive des historisch gesicherten Wissens und Gewissens, können wir feststellen, dass es eine Stunde Null nicht gegeben hat. Umso erstaunlicher ist es, dass in Bezug auf die künstlerische Biografie Wieland Wagners der Mythos von der Stunde Null jahrzehntelang an seinem Namen hing. War er bis 1951 ein Dilettant, danach ein Genie? War er bis 1951 rechts gesinnt, ab 1951 links gesinnt?

"Ich halte es für eine meiner wesentlichsten Aufgaben, Menschen von besonderem geistigen Format, die früher aus vielen Gründen einen weiten Bogen um das Werk Wagners gemacht haben, für dieses Werk zu interessieren. […] Die Deutung des Wagner’schen Werkes war, als wir hier anfingen zu arbeiten, leergelaufen oder auf Abwege geraten. Jahrzehntelange Fehlinterpretation kann ein Werk töten“, betonte Wieland Wagner in einem Interview 1964.

Feuerköpfe Mahler und Wieland Wagner

Er wollte das neue Bayreuth als Werkstätte und sehr freies Diskussionsforum verstanden wissen. Er gewann die geistige Elite seiner Zeit, unter ihnen Ernst Bloch und Valentin Rosenfeld (über ihn wurde Wieland Wagner mit der Welt Sigmund Freuds bekannt), als intellektuelle, inspirierende Wegbegleiter für Bayreuth. Mit ihnen pflegte er jahrelang freundschaftlichen Austausch, ebenso mit Carl Orff, mit dem ihn seit 1951 die Hinwendung zur griechischen Antike verband.

2011 gedenken wir auch des 100. Todestages von Gustav Mahler, Komponist, Dirigent und Hofoperndirektor. Gustav Mahler und Wieland Wagner waren Rastlose und Feuerköpfe des 20. Jahrhunderts. Beide waren Wagnerianer im unorthodoxen Sinne: Mahler aus künstlerischer Überzeugung und Begeisterung. Als junger Bayreuth-Pilger war er unter anderem tief beeindruckt vom unsichtbaren Orchester im Festspielhaus. Wieland Wagner war Wagnerianer zunächst ganz ungefragt aus familiendynastischen Gründen und dem auferlegten Recht, als Ältester Erster unter Gleichen zu sein. Beide verpassten der Wagner-Szene und der Operninszenierung insgesamt mit einem halben Jahrhundert Abstand einen epochalen Innovationsschub. Beide suchten die Idee des Gesamtkunstwerks zeitgemäß zu realisieren und strebten deshalb nach einer idealen Bezogenheit von Musik und Szene.

Wieland Wagners viel zitiertes Diktum "Inszenieren heißt interpretieren“ ist Zeugnis seines progressiven Theaterbegriffs nach 1945 und seiner analytischen Arbeitsweise: Durch Dechiffrieren der Partitur suchte er sich die Werkidee, die innerste, von Zeit und Raum unabhängige Substanz, zu erschließen. Dabei war er stets bestrebt, die differenzierte Tonartensymbolik, die psychoanalytische Funktion der Leitmotive, die klangsymbolische und klangpsychologische Bedeutung der Partituren für seine Inszenierungen nutzbar zu machen. Die Musik hatte nicht illustrierende und vordergründig für die Bewegungsregie impulsgebende, sondern dramaturgische Funktion. "Er kannte jede Note auswendig, jedes Wort, jede Tonart und Tonartbezeichnung, jedes Leitmotiv und dessen Bedeutung in allen Wagner-Opern“, erzählte George London, der einer seiner Lieblingssänger war.

Keine "blechgepanzerte Schwülstigkeit“

In seinem in der Nachkriegszeit völlig unkonventionellen Selbstverständnis als Regisseur und Bühnenbildner unterschied Wieland Wagner zwischen dem herkömmlichen "Operntheater“ mit den Merkmalen "Fülle, Abwechslung, Bewegung um jeden Preis“ und dem "archetypischen Theater“ mit den Merkmalen "leerer Raum, Farbe, Stimmung und strenge choreographische Führung“. Die notwendige Korrespondenz von Musik und Szene und deren zeitgemäße Interpretation betonte Wieland Wagner auch in seinem - mehrfach abgedruckten - Vortrag von 1958 "Denkmalschutz für Wagner?“: Entsprechend "eine[r] mit modernen choreographischen Mitteln und Erkenntnissen arbeitende[n], den Sänger schauspielerischen Gesetzen unterwerfende[n] Wagner-Regie, die die Möglichkeiten der Beleuchtung als dramaturgisches Hilfsmittel einsetzt und die Stilelemente der zeitgenössischen Kunst - visionäre ‚Zeichen‘, geometrische Abstraktion, Symbolfarben und -formen - zur Raumgestaltung benützt“ sei es "an der Zeit […], die gesamte musikalische Interpretation - Tempi, Agogik, Dynamik - dem Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts anzupassen (Wagner also nicht mehr exhibitionistisch, langsam, schwer und mit blechgepanzerter Schwülstigkeit zu zelebrieren!)“.

Sein unbeirrbar kritisch-analytischer Anspruch und seine Gegenposition zu den "orthodoxen Wagnerianern“ führte ihn konsequenterweise zu Pierre Boulez. Die orthodoxen Wagnerianer "verwechseln nämlich den Buchstaben mit dem Geist und führen sich Richard Wagners Werk als Rauscherlebnis zu Gemüte“, erklärte Wieland Wagner, durchaus im Brecht’schen Sinne gegen die Hypnotisierung durch das Theater.

Mit Pierre Boulez verbanden ihn eine gemeinsame "Wozzeck“-Produktion in Frankfurt 1966, ein Faible für Paul Klee und diverse weitere künstlerische Pläne bis 1968. Darüber hinaus war Boulez Wieland Wagners Wunschdirigent für eine Bayreuther "Ring“-Neuinszenierung 1968. Diese Idee realisierte dann 1976 Wolfgang Wagner. An der Wiener Staatsoper planten sie im selben Jahr eine "Lulu“-Produktion. Wieland Wagners Entwürfe für "Don Giovanni“ in Stuttgart und für "Pelléas et Mélisande“ in London, beide mit Boulez, gingen - wie viel anderes Material auch - unmittelbar nach seinem Tod verloren. Die Theaterkunst ist vergänglich. Das Bewahren im kulturellen Gedächtnis Verpflichtung der Nachwelt.

Wieland Wagner

Wegbereiter und Weltwirkung

Von Ingrid Kapsamer

Styria Verlag, Wien 2010, geb., 411 S., E 24,95

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