Abbilder eines Wohlstandsgefälles

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In Locarno trumpfte das osteuropäische Kino groß auf -"Godless", das Langspielfilmdebüt der Bulgarin Ralitza Petrova, errang den Hauptpreis.

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In Locarno trumpfte das osteuropäische Kino groß auf -"Godless", das Langspielfilmdebüt der Bulgarin Ralitza Petrova, errang den Hauptpreis.

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Es gibt wohl keinen Ort auf der Welt, an dem sich bis zu 8000 Kinobesucher auf einem Platz unter freiem Himmel versammeln, um sich hier Filmkunst als Gemeinschaftserfahrung anzutun; freilich: Die Piazza Grande im Tessiner Städtchen Locarno ist als "breitenwirksames" Aushängeschild des hiesigen Filmfestivals gedacht (heuer lief u. a. "Jason Bourne"), doch Festival-Chef Carlo Chatrian hat hier auch das eine oder andere Kunstwerk programmiert - darunter "Vor der Morgenröte" von Maria Schrader oder den Cannes-Sieger "I, Daniel Blake" von Ken Loach.

Zum vierten Mal leitete Chatrian die Auswahl von Locarno, soeben wurde er bis 2020 erneut bestellt. Dass hier die Jury unter dem Vorsitz des Mexikaners Arturo Ripstein dem Markenzeichen des Festivals treu bleiben würde, war nicht schwer zu erraten. Den 69. Goldenen Leoparden vergab sie folglich an den bulgarischen Wettbewerbsbeitrag "Godless" der Langfilmdebütantin Ralitza Petrova. Es geht um eine Altenpflegerin, die Demenzkranke umsorgt und die ihnen ihre Reisepässe oder Personalausweise stiehlt, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Ein Film, der Gutes und Böses von seiner Protagonistin denkt, so facettenreich wie das Leben nun mal ist.

Traditionell guter Stand für osteuropäisches Kino

Das osteuropäische Kino hat hier in Locarno traditionell einen guten Stand, denn es bedient sich der Stilistik eines Entbehrungskinos. Verlassene, verfallene Orte, Peripherien, Menschen, die Not und Entbehrung empfinden, das sind die Themen eines Kunstkinos, das sich mit einfachen Mitteln auf den Weg macht, diese ebenso einfachen Geschichten zu erzählen. Diese Pflegerin, Gana (Irena Ivanova, die in Locarno auch den Darstellerinnen-Preis erhielt), die sich immer mehr in kriminelle Machenschaften verstrickt, reflektiert auch ein gutes Stück des modernen, zerfransten Europas, an dessen Rändern die Menschen oft nur mehr die nach außen geschleuderten Krümel des Kuchens auflesen können.

Frustrierende Lower-Class-Geschichten

Es ist das Abbild eines Wohlstandsgefälles, das das Festival Locarno (auch) zeigt: Ausgerechnet an einem der teuersten Lebensräume der Welt arbeitet man sich an frustrierenden Lower-Class-Geschichten ab, die längst nicht mehr so weit von einem entfernt scheinen wie früher. In diesem Licht erscheint der große Jury-Preis für "Inimi cicatrizate"(Bild oben) des Rumänen Radu Jude beinahe als von der Realität entrückte Geschichte: In einem Sanatorium an der Schwarzmeerküste liegt 1937 ein Knochentuberkulose-Patient auf einem Spitalsbett und sieht das Ende des Lebens kommen -was er allerdings durch vergnügte Ablenkungen leichter ertragen kann als angenommen. Diese rumänische Literaturverfilmung besticht durch Witz und Verve in der Inszenierung, und wird wohl Gastspiele an vielen internationalen Festivals antreten. Ebenso der portugiesische Film "O Ornitólogo" von João Pedro Rodrigues, der den Regiepreis erhielt: Er folgt einem einzelgängerischen Vogelkundler in die Wildnis, wo der sich selbst findet.

Insgesamt haben Carlo Chatrian und seine Jury eine gute Auswahl getroffen; im Raum stehen bleibt der ungelöste Zwiespalt zwischen Piazza und Filmkunst, zwischen Unterhaltung und Anspruch. Debatten sind gesund, Kritik auch. Ausgeglichen kann dieses Verhältnis gottlob niemals sein. Denn dann hätte die Kunst nämlich ihre Berechtigung verloren.

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