Abgestürzte "Luftgängerin"

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Die Sonnenstrahlen frühstücken im aprilenen Tal, doch kann Robert Schneiders neuer Roman mildernde Umstände beanspruchen. zubilligen.

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Die Sonnenstrahlen frühstücken im aprilenen Tal, doch kann Robert Schneiders neuer Roman mildernde Umstände beanspruchen. zubilligen.

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Die Unzurechnungsfähigkeit frisch Verliebter und mehr oder weniger unfreiwillig Entliebter ist ein Urphänomen. Unzählige Gedichte geben uns Kunde von der Wucht des privaten Weltereignisses, wie Alfred Polgar die Liebe nannte. Zweifellos wurden in solchen Ausnahmezuständen auch Romane sonder Zahl geplant, in Angriff genommen - aber zum Glück nach der Genesung liegengelassen. Robert Schneider hat seinen neuen, zweiten Roman tatsächlich fertigstellt. Das Ergebnis ist ein Malheur.

"Die Luftgängerin" ist das Resultat eines Kraftakts. Schneider wollte offenbar die absolute, im Sekundenbruchteil ausbrechende und nimmer vergehende Liebe so überlebensgroß darstellen, wie man sie im Stande der temporären oder bleibenden Unbedingtheit erlebt. Zu diesem Behufe ließ er sich einen Engel einfallen. Einen richtigen. Ein weibliches Wesen namens Maudi, das - ohne selber zu wissen, was mit ihm los ist - dann und wann buchstäblich zum Riesen aufschwillt. Eine, von der eine Hitzewelle ausgeht, die über geheimnisvolle Kräfte verfügt und überhaupt mehr ist als ein Mensch. Wobei uns Schneider über die genetische Struktur des Engels so genau informiert, daß man ihn durch pränatale Tests schon im Mutterleib erkennen könnte.

Selbstverständlich ist eine gewaltige Liebe auch über die Abgründe der Zeit erhaben. Maudis Halbschwester, das Mädchen Esther, findet auf dem Dachboden das Bild eines jungen Mannes, der mittlerweise etwa siebzig Jahre alt sein muß. Liebe auf den ersten Blick. In New York prallen sie aufeinander: "Und Engelbert starrte sie an. Hatte sie gesehen, ehe sie ihn sah. Im ersten Moment. In der Sekunde. Ohne Umweg. Augenblicklich. Jäh. Sie. Seine Augen waren auf sie gestürzt und hatten den Menschen auf einmal in seiner ganzen, seraphischen Erscheinung begriffen. Nichts Fremdes an ihm. Nichts Unbekanntes. Immer bei ihm gewesen. Bei ihm gewohnt. Ihn immer geliebt."

Expressionismus in Reinkultur. Macht nichts. Schneider kann auf seine vertrackte Art sehr wohl erzählen, wie man seit "Schlafes Bruder" weiß.

In der Begegnung des Ambros Bauermeister mit seinem Engel Amrei wird das Weltereignis gleich am Anfang noch auf witzige Weise Literatur, wenn sich der im Zug auf den ersten Blick in Liebe Entbrannte auf die Fremde stürzt, sie küßt, und wenn sie drauf sagt: "Finden Sie nicht, daß Ihnen etwas die Nuancen fehlen?"

Aus dieser Verbindung geht der eigentliche Engel Maudi hervor. Er steht im Mittelpunkt der anspruchsvollen, breit angelegten Geschichte einer Rheintaler Familie, ihres drei Jahrzehnte währenden Niederganges und etlicher weiterer Zentral-, Neben- und Randfiguren. Dabei entsteht das Gemälde einer Region und eines Milieus, und dank dieser sich durch die Geschichte ziehenden Erzählung ist "Die Luftgängerin" lesbar und keineswegs in solchem Ausmaß mißraten, wie die Autoren der ersten Welle von Rezensionen kürzlich behaupteten. Schneider beschreibt anhand der fiktiven Stadt Jacobsroth interessant den Niedergang der Vorarlberger Textilindustrie und die schrecklichen ökonomischen Folgen für die Region sowie die psychischen Folgen für jeden einzelnen, die sich zu einer Welle der Gewalt summieren. Ein literarisches Malheur ist "Die Luftgängerin" aber trotzdem.

Und zwar gleich aus zwei Gründen. Einerseits wegen des hochgespannten, übersteigerten, oft penetrant wirkenden Mystizismus dieser Engelsgeschichte. Ist Maudi identisch oder nur wesensgleich mit der Schwester Sonja des bei einer Vorarlberger Zeitung gestrandeten russischen Journalisten Izjumow, die wenige Monate vor Maudis Geburt Selbstmord beging?

Zweitens hat Robert Schneider offenbar ein seltsamer, unnötiger, krampfhafter sprachlicher Ehrgeiz gepackt, der seine Selbstkritik lahmlegte und mehrmals zum senkrechten Absturz in den Kitsch führt, etwa wenn der Rhein seit der Begradigung "wie ein junger, aufrechter Mann durchs Tal ging" oder wenn "in den sanften Mulden, in den Schößen der Magerwiesen von Marienruh" die ersten Sonnenstrahlen - was wohl tun? Sie "frühstücken". "Die Luftgängerin" ist voll sprachlicher Katastrophen. Typisch: "Das aprilene Rheintal". Oder: "Und er hielt rehhaft instinktive Distanz." Und was tut die Erde im Winter? "Die Erde friert 19 Grad." Wie macht sie das bloß?

Auch mit der Ironie geht Schneider nicht immer geschickt um: "Am Beginn der achtziger Jahre erkannten die Jacobsrother Intellektuellen gleichsam über Nacht drei Dinge auf einmal: die Gefahr der Atomkraftwerke, den Naturschutz und daß die Väter Naziverbrecher waren ... Ganz und gar unbeträchtliche Historiker (Gymnasiallehrer zumeist) schwärmten nun zuhauf durchs Land, Schweinereien aus der braunen Vergangenheit aufzudecken."

Im Showdown sodann haben sich im Geiste des Dichters offenbar zwei Ausnahmezustände überlagert und kräftig aufgeschaukelt. Zum - von Schneider in der Widmung angedeuteten - privaten Ausnahmezustand muß noch ein zweiter gekommen sein, nämlich der Ausnahmezustand, in dem Schreibenden die Pferde durchgehen, wenn sie den Film wittern. Robert Schneider läßt dem Bundesheer einen Kampfpanzer durchgehen, dessen durchgeknallte Insassen halb Jacobsroth in Schutt und Asche legen und dann im ausgetrockneten, aber leider nicht genug ausgetrockneten Rhein versinken.

Schließlich hat nicht zuletzt der schöne Brand des Dorfes Joseph Vilsmaier veranlaßt, "Schlafes Bruder" zu verfilmen. Der Dorfbrand war gewiß am spektakulären Erfolg dieses Erstlings (Übersetzung in 24 Sprachen, Weltauflage bisher eineinviertel Millionen!) nicht ganz unbeteiligt. In der "Luftgängerin" scheint Schneider gar zu unverfroren mit der Wiederholung dieses Marketing-Effekts zu spekulieren. Die filmspezifischen Angebote sind nicht weniger dick aufgetragen als die mystizistischen - und zwar beide zu dick.

Die Luftgängerin Roman von Robert Schneider. Karl Blessing Verlag, München 1998 352 Seiten, geb., öS 313,

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