"Abgrund unverschuldeter Not"

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Rainer Maria Rilkes literarische Aufarbeitung seiner Internatszeit, die er einmal als "eine einzige fürchterliche Verdammnis" charakterisierte.

Fragen der Erziehung sind für die handelnden Personen, für Erwachsene wie Heranwachsende, Lebensfragen - wesentlicher für die Innenräume als für die Außenräume des Menschen. Nirgends wird das deutlicher als in literarischen Bildern dieser Mensch-Mensch-Beziehungen, wobei die schärfsten Zeichnungen von Scheitern, Zusammenbruch, tödlichem Ausgang beherrscht sind. "Schulgeschichten", "Schülergeschichten", "Lehrergeschichten" sind in der Literatur zu einer eigenen Stoffgruppe versammelt, die um 1900 eine Hochblüte erlebte. Im Vordergrund steht massive Kritik am traditionellen Erziehungssystem (Familie, Schule, Internat) und Hass gegen seine Repräsentanten (Väter, Lehrer, Erzieher). "Frühlingserwachen" von Frank Wedekind, "Der Vorzugsschüler" von Marie von Ebner-Eschenbach, "Freund Hein" von Emil Strauß, "Professor Unrat" und "Abdankung" von Heinrich Mann, "Unterm Rad" von Hermann Hesse und "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" von Robert Musil sind hiefür Beispiele.

Autobiographisches bildet vielfach den Hintergrund für die Erzählungen von Schicksalen empfindsamer Kinder und Jugendlicher, ihren verletzten und zerstörten Seelen. Die Szenen sind in erlebte und erkennbare Orte und Institute eingemauert, Schulen und Internate fallen in das Bild von Kasernen.

Der Sensitivste unter den ehemaligen Zöglingen lieferte nur ein knappes, eher dürftiges Zeugnis durchlebter Krisenzeiten und Existenzängste: Rainer Maria Rilke. Vor 75 Jahren, in den frühen Morgenstunden des 29. Dezember 1926, ist der "grand poète" in Valmont/Montreux gestorben, vier Tage später wurde sein Leichnam vor der Bergkirche von Raron/Wallis bestattet. In die überinterpretierte Grabinschrift von der "Rose, oh reiner Widerspruch", Symbol der unio mystica, sind Verfall im Blühen und damit ständige Gegenwart des Todes eingeschrieben. Rückblicke in die früheste Kindheit und die Zeit des Heranwachsens verdeutlichen dies.

Unerfüllte Wünsche der Eltern wurden in das Kind projiziert: Die Mutter, Phia (Sophia) Rilke, sah den Sohn als Ersatz der schon bei der Geburt verstorbenen Tochter, steckte ihn in Mädchenkleider und schrieb seinen Vornamen René in der weiblichen Form Renée. Der Vater, Josef Rilke, musste wegen Krankheit die Offizierslaufbahn abbrechen und in den Dienst als Bahnbeamter wechseln. Rainer (René), der seinen Vater glühend verehrte, sollte Offizier werden. Zum Verlust des "Kindtums" wie - durch die Trennung der Eltern - der Familie kam durch Abgrenzung von der tschechisch sprechenden Umwelt jener der Heimat. In der Deutschen Volksschule der Piaristen in Prag, einer elitären Bildungsstätte (hier waren später auch Franz Werfel und Leo Perutz Schüler) lehnte das Kind René Rilke die Teilnahme am Tschechischunterricht ab. Später erst wird den Dichter in Erinnerung an die böhmische Heimat und ihre Menschen "böhmischen Volks Weise" rühren.

Schwacher Turner

Durch vier Jahre, vom elften bis zum 15. Lebensjahr war Rainer Rilke Zögling der Militär-Unterrealschule in St. Pölten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in mehreren Reformschritten die Bildungspläne der militärischen Schulen auf ein relativ hohes Niveau gehoben worden. Zum vollen Umfang des Lehrplans der "zivilen Realschulen" kamen ausgedehnte Übungen in militärischen Bereichen wie in körperlicher Erziehung und musischer Bildung. Die Pensa reichten bis zu 50 Wochenstunden, für das Fortkommen waren gute Lernerfolge und tadelloses Verhalten Voraussetzung. Abgesehen vom Ruf des schwachen Turners und der zwar belächelten, aber durchaus geförderten Neigung zum Dichten und zur "Vielleserei" (nicht selten ist das Buch Schutzwand für Einzelgänger im Internat) zeigte der "geschätzte Zögling René Rilke" in St. Pölten die geforderte Einstellung zum militärischen Beruf, erzielte Erfolge und erreichte die Versetzung in die Militär-Oberrealschule.

Eine kleine Stadt weitab von der Residenz, ein berühmtes Konvikt, "hier erhielten die Söhne der besten Familien des Landes ihre Ausbildung ... galt es als besondere Empfehlung, im Konvikte zu W. gewesen zu sein'', schreibt Robert Musil über den Ort seines "Törleß". W. ist Mährisch-Weißkirchen (tschechisch Hranice), das "berühmte Konvikt", die dortige Militär-Oberrealschule. In diese kam Rilke im Herbst 1890, es hätte der entscheidende Schritt zur Vorbereitung auf die Offizierslaufbahn sein sollen; aber seine schwache Gesundheit hielt den neuen, noch stärkeren Belastungen der Ausbildung nicht stand, nach einem Jahr musste er dieses Institut verlassen und die militärische Vorbildung beenden. Nach dem Zwischenspiel eines Schuljahres an der Handelsakademie in Linz kehrte Rilke nach Prag zurück, widmete sich intensivem Privatunterricht und legte im Sommer 1895 am Deutschen Staatsgymnasium zu Prag-Neustadt die Reifeprüfung mit Auszeichnung ab.

Ist das aus zeitlicher Distanz zu den Knabenjahren in den militärischen Schulen entstandene Bild der Leid-Erfahrung, einer "Fibel des Entsetzens", einer Zeit des Schreckens als Erschließung des subjektiven Erlebens oder als Imagination im Rückblick des Dichters zu sehen?

In der knappen Erzählung "Die Turnstunde" (1902), eigentlich nur eine auf sechs Seiten entworfene Skizze (der Plan eines "Militärromans" wurde nicht ausgeführt), sind die in einer brutalen "Erziehungssituation" durchlebten Angstzustände zum Thema geworden. Offiziere, Feldwebel, Unteroffiziere sind "Lehrer" und "Erzieher" der Knaben. Ihre Augen ("hart", "zornig", "höhnisch") und ihre Stimmen ("schneidend", "wütend", "boshaft") erzwingen Disziplin und Leistung. Der schwächste Turner, durch Spott und Schikane zutiefst verletzt, treibt sich in einer gefürchteten Übung zur Höchstform - und in den Tod. Suizid. "Euer Kamerad Gruber ist soeben verstorben. Herzschlag. Abmarsch."

In Kerkermauern

Mit Stolz und Bewunderung vermerkten frühere Lehrer, dass aus dem René Rilke ein großer Dichter geworden war. Der zum Generalmajor avancierte Deutsch-Lehrer Sedlakowitz erinnerte sich an den ehemaligen Zögling als begeisterten Leser, erwähnte die phantasievollen und weitschweifigen Aufsätze, die der Lehrer "mit leisem, aber wohlwollendem Spott" gelesen habe, unterließ nicht die Bemerkung über den schlechten Turner und dankte für das Geschenk der Begegnung "auf Ihrem Lebenspfad in goldener Jugendzeit".

Der Brief des Generals und der Antwortbrief des Dichters sind Dokumente eines gespaltenen Erlebens von Erziehung. Hier die verklärte Erinnerung, dort die noch einmal aufbrechende Verzweiflung über die "gewaltige Heimsuchung meiner Kindheit", den "Abgrund unverschuldeter Not" und "eine einzige fürchterliche Verdammnis in den Kerkermauern von St. Pölten". Die Erinnerung an ein böses und banges Jahrfünft der Kindheit wird dadurch gemildert, "dass ich schon vor langer Zeit eine gewisse Versöhnlichkeit gegen meine älteren Schicksale anzutreten unternahm".

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