Abschied vom Klischee der Prüderie

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Die Münchener Ausstellung "Prüderie und Leidenschaft - Der Akt in viktorianischer Zeit" rückt das Klischee vom prüden 19. Jahrhundert zurecht.

Let's talk about Sex", so und ähnlich heißt es im Ausstellungsbetrieb der Museen in Amsterdam, Hamburg, Dresden oder Salzburg. Doch unterschiedlich sind die jeweiligen Positionen. Höhere Besucherzahlen dürften dort eingespielt werden, wo harte Fakten künstlerischer Selbstdarstellung die in den Medien längst vollzogene Ent-Tabuisierung fortführen.

Auch die vielbeachtete Ausstellung der Tate Gallery, die unter dem Titel "Prüderie und Leidenschaft - Der Akt in viktorianischer Zeit" derzeit im Haus der Kunst in München zu sehen ist, wird um einen aktuellen Beitrag erweitert. Die 1963 geborene Londoner Künstlerin Tracy Emin präsentiert schonungslos alle Aspekte persönlicher Körpererfahrungen, zwingt den Betrachter in die Rolle des Voyeurs. Weniger provoziert als amüsiert fühlt sich der Besucher vor den Stummfilmen der Jahrhundertwende, die ihn zum Zeugen machen von Entkleiden und Posieren im Atelier, bei der Arbeit von Maler und Modell.

Von der gängigen Vorstellung, die "viktorianisch" ausschließlich mit strengen Moralvorstellungen und Sittenkodex verbindet, darf man sich verabschieden. Seit den sechziger Jahren hat die Forschung das Klischee einer Epoche enttarnt, in der man von Gliedmaßen statt von Beinen sprach und solche von Klavieren angeblich züchtig verhüllte. Aber eben nicht nur. Während Königin Victoria (1837 bis 1901) jedes Jahr ihren Prinzgemahl Albert zum Geburtstag mit einem Aktgemälde als "Sinnbild ihrer reinen Liebe" beschenkte, kämpften die Künstler gegen offiziell verordnete Prüderie für die öffentliche Akzeptanz einer bis dahin in England kaum geübten Kunstgattung und damit für die künstlerische Gestaltung des Aktbildes im Gegenwind von kontroversen Ansichten über die Darstellung von Körperlichkeit und nackter Haut.

Moralische Drohungen

Rund 150 Werke - Gemälde, Skulpturen in Biskuit-Porzellan beziehungsweise in Bronze, Zeichnungen und Fotografien - bieten einen überraschenden Eindruck von der Entwicklung des englischen Aktes, in dem auch der männliche, meist athletische Akt eine Rolle spielte. Zu den Pionieren im noch jungen 19. Jahrhundert gehörte William Etty, berühmt und bewundert wegen seiner an Rubens und den Venezianern geschulten Farbigkeit, gescholten wegen seiner nicht dem antiken Ideal entsprechenden Körperauffassung. So balancieren auf seiner Barke "Die Jugend am Bug und am Ruder die Lust" teils spärlich verhüllte, teils nackte Gestalten in unklassischen Drehungen und Dehnungen. Ein heiter anmutendes Bild einer poetischen Liebesgeschichte, nicht jedoch ohne eine moralisch-drohende, schwarze Wolke im Hintergrund.

Inhaltliche Bezüge zu literarischen, antiken und mythologischen Quellen dienten vorzugsweise als Vorwand, sich der Aktdarstellung zuzuwenden: so etwa Shakespeares "Sommernachtstraum" für 165 auf einem Werk gezählte kleinste Elfen von Joseph Noel Patons oder "nach einer Ballade von Goethe" Frederic Leightons "Der Fischer und die Sirene" (beide leider nicht in München). Besonders beliebt war auch die legendäre "Lady Godiva", die durch das Opfer eines nächtlichen Nackt-Rittes die Einwohner vor Steuererhöhungen ihres Mannes gerettet haben soll. Hoch zu Ross, geadelt durch ihren wohltätigen Einsatz, mit langem, offenem Haar und blassem Inkarnat, so malte Edwin Landseer sein einziges Aktgemälde, für das ihm die bekannte Künstlerin aus einer Truppe der Tableaux Vivants Modell gesessen hatte, und das 1866 die Königin auszustellen befahl.

Zu den Höhepunkten des englischen Aktbildes gehören unter anderem die Werke Frederic Leightons, der 1867 erstmals einen großformatigen Akt öffentlich ausstellte. Sein "Bad der Psyche" (1890) trug ihm wegen der Weichheit des Fleisches Jahre später die Bewunderung als "Praxiteles" des Pinsels ein. Eine knisternde Spannung zwischen sinnlicher Körperlichkeit und gebändigter Gesamtkomposition bestimmt auch seine lebensgroßen Bronzen, "Ein Athlet mit einer Python ringend" (1877), der sich wohlig räkelnde "Faulpelz" (1885).

Lust und Verderben

Nur für den privaten Bereich bestimmt waren kleinformatige Aktbilder intimen Inhalts. Herausragend Dante Gabriel Rossettis "Venus Herzenswenderin", in dem das christliche Andachtsbild zur Ikone einer Femme fatale mit offenem, rotem Haar, Heiligenschein und entblößtem Oberkörper als Quelle von Lust und Verderben umgedeutet wird. Aktbilder aus dem homosexuellen Bereich, wie die Zeichnungen von Simeon Solomon, blieben der Öffentlichkeit und damit auch der gerichtlichen Verfolgung entzogen wie Sammlungen mit erotischen Darstellungen oder Aufnahmen. Der Einsatz der Fotografie als technisches Hilfsmittel diente dem Künstler, wurde aber auch das Medium zur Massenproduktion von Bildern. Die Grenzen waren offensichtlich fließend: Akte von Kindern und jungen Mädchen, dem Blick schutzlos preisgegeben, zeigen den Abgrund auf von Missbrauch einerseits beziehungsweise Vermarktung andererseits. Die Pornographie als "Spielart sexueller Unterhaltung um ihrer selbst willen" hat hier ihre Wurzeln.

Der Akt der englischen Hochkunst der siebziger und achtziger Jahre zeigt französische Einflüsse - zahlreiche Künstler studierten in Paris. Hier werden Aspekte der christlichen Ikonographie, symbolistische Bildinhalte und Orient-Bezüge auf großen Formaten thematisch überhöht, hier und da ins Monumentale, wenn nicht Triviale übersteigert. In "Die Heilige Eulalia" (1885) stellt John William Waterhouse die Frau als Opfer von Gewalt im Bild öffentlich zur Schau; ein Frauen-Thema, noch vor den Prostituiertenmorden rund um den Serienkiller Jack The Ripper.

Der moderne Akt verweist bereits ins 20. Jahrhundert: im Freien - Zeichen von neuem Körperbewusstsein und Freiheit - nimmt das Modell vereinzelt individuelle Züge an.

Bis 2. Juni

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