Abseits der großen Politik

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Es mag in der Natur der Sache liegen, dass Großmächte ihre Aufmerksamkeit viel mehr auf weltpolitische Themen richten als das in herkömmlichen Staaten der Fall ist - und dass folglich auch den Metropolen im Land eine überproportionale Bedeutung gegenüber den global betrachtet bedeutungslosen Klein- und Mittelstädten zukommt. In Russland ist dieses Auseinanderklaffen des Landes in wichtige und unwichtige, in beachtete und unbeachtete Regionen seit dem Zerfall der Sowjetunion allerdings eklatant. Neben den großen Zentren Moskau und St. Petersburg stehen jene Teile des Landes im Rampenlicht, die von ökonomischer oder strategischer Bedeutung sind und für die Machterhaltung der Regierenden zweckdienlich sind. Die Entwicklung des - im zweifachen Wortsinn - provinziellen Russland hinkt folglich immer mehr hinterher.

Dies ist umso bedauerlicher, als das größte Land der Welt über Tausende Städte verfügt, die als dezentrale Motoren für Wohlstand und Modernisierung fungieren könnten - vorausgesetzt, sie erhalten die erforderlichen Impulse, um diese Rolle nach Ende des Kommunismus, der den gewachsenen Städten als Zeugnissen der bürgerlichen Gesellschaft oft ablehnend gegenüberstand, wieder erfüllen zu können. Städte mit langer urbaner Tradition scheinen dafür ein größeres Potenzial zu haben als etwa neu gegründete Plattenbaustädte mit ihrer einförmigen Bebauung, ihrer oft eingeschränkten Funktionsvielfalt und ihrer recht homogenen Gesellschaft.

Schlüsselbranche Tourismus

Dieses Potenzial sowie die Sorge um das städtebauliche Erbe Russlands war der Grund für ein inzwischen langjähriges Engagement des Landes Nordrhein-Westfalen in russischen Klein- und Mittelstädten mit historischem Stadtkern, im Zuge dessen deutsche Architekten und Planer vor Ort mit ihren russischen Kollegen urbanistische Konzepte für eine zukunftsweisende Entwicklung erarbeiten - die möglichst eigenständig und unabhängig von den unwägbaren Entscheidungen auf übergeordneter politischer Ebene erfolgen können soll.

Stadtplanung in der russischen Provinz erfordert daher neben städtebaulichen oder verkehrsplanerischen vor allem auch wirtschaftliche Konzepte, ohne die jedweden urbanistischen Maßnahmen die Basis fehlen würde. In historischen Städten stützen sich diese Konzepte naheliegenderweise auf den Tourismus - eine der wenigen Branchen abseits der Rohstoff- und Rüstungsindustrie, für die ausländische Investoren und Kunden in Russland zu gewinnen sind.

Die 300.000 Einwohner zählende Gebietshauptstadt Kostroma beispielsweise spiegelt bis heute wider, dass sie ab dem 16. Jahrhundert eines der bedeutendsten Handelszentren Russlands war. Nicht von ungefähr zählt die 360 Kilometer nordöstlich von Moskau und direkt an der Wolga gelegene Stadt zum "Goldenen Ring“ altrussischer Städte, die unter Katharina II. vom Klassizismus überformt wurden. Das Besondere an Kostroma ist, dass sich dieser Stil nicht nur in zahlreichen klassizistischen Bauten niederschlägt. Das gesamte Zentrum, das heute unter Denkmalschutz steht, erhielt Ende des 18. Jahrhunderts einen idealtypischen Grundriss, wurde also gänzlich umkonzipiert - weshalb Kostroma für die deutsch-russische Kooperation ausgewählt wurde, obwohl oder gerade weil siebzig Jahre Kommunismus sichtbar an der Substanz der Stadt gezehrt haben und die letzten zwanzig Jahre Kapitalismus kaum etwas zum Besseren wenden konnten.

Der mit den Planungen für Kostroma beauftragte münsterländische Architekt Friedrich Wolters begann nach einer ersten Analyse, die bestehenden Konzepte der lokalen Behörden zu hinterfragen - etwa die Absicht, den von den Kommunisten gesprengten Kreml wiederaufzubauen. Mit einem Verweis auf die knappen Geldmittel einerseits und den großen finanziellen Bedarf allein für die Erhaltung und notwendige Adaptierung bestehender historischer Gebäude andererseits gelang es ihm, dieses denkmalpflegerisch fragwürdige Projekt zu verhindern. Zudem erfüllt der Kremlberg heute als Parkanlage eine wichtige Erholungsfunktion im Zentrumsbereich und sollte als solche fortbestehen.

Flachs und Leinen plus Wolgaschifffahrt

Den als Nächstes entwickelten urbanistischen Überlegungen für das historische Zentrum legten Wolters und sein internationales Planerteam ein weitreichendes ökonomisches Konzept zugrunde, das Bezug nimmt auf ein traditionelles landwirtschaftliches Produkt der Region - den Flachs, der in Westeuropa wie viele andere Naturfasern eine Renaissance erfährt. Die klimatischen Bedingungen sowie das niedrige Lohnniveau prädestinieren diesen Standort geradezu für den Anbau von Flachs und dessen Weiterverarbeitung zu Leinen. Zum einen hat die Textilproduktion eine lange Tradition in der Wolgastadt, zum anderen besteht in Kostroma bereits eine Niederlassung einer westfälischen Textilmaschinenfirma, mit deren Know-how nicht nur die Entwicklung und Fertigung exportfähiger Produkte, sondern auch ein entsprechendes Marketing und ein internationaler Vertrieb realistisch erscheinen.

Flachs und Leinen hätten das Potenzial, über den primären und sekundären Sektor hinaus auch den Tourismus neu zu beleben - indem sie als unverwechselbare Produkte der Stadt dazu beitragen, Kostroma unter den Altstädten Russlands zu profilieren. Eine attraktive Präsentation und Direktvermarktung der Leinenerzeugnisse könnte in Verbindung mit der Wolgaschifffahrt, die in den letzten Jahren verstärkt von westlichen Reisebüros angeboten wird, den Fremdenverkehr zum Wohle der Stadt entwickeln.

Das Planerteam schlug dazu als erste bauliche Maßnahme die Sanierung des Moskauer Tors am Wolgaufer vor. Das Gebäude soll seine ursprüngliche Funktion als Eingang zur Stadt wiedererlangen und touristische Vorleistungen für ankommende Schiffsgäste bieten - in Form eines Informationsbüros oder einer Dienststelle des Fremdenverkehrsamts. Andere leer stehende oder inadäquat genutzte historische Bauten im Zentrum Kostromas erwiesen sich als geeignet, um darin das Defizit an Cafés, Restaurants oder einem Hotel nach westlichen Standards zu kompensieren - oder einer Ausstellung über Geschichte, Anbau und Verarbeitung von Flachs Platz zu geben.

Einübung in Partizipation

Basierend auf diesen stadtwirtschaftlichen Überlegungen erarbeiteten die westeuropäischen Planer gemeinsam mit ihren russischen Kollegen schließlich einen städtebaulichen Rahmenplan für den historischen Stadtkern. Bei den anstehenden Sanierungen und baulichen Veränderungen sieht sich die Stadtverwaltung heute zunehmend privaten Bauherren gegenüber. Dementsprechend groß ist die Gefahr der Missachtung der bestehenden Bau- und Denkmalschutzgesetze. Dies liegt zum einen an der relativen Starrheit der Bestimmungen, zum anderen aber auch am mangelnden Verständnis für deren Inhalte seitens der Bürger und Investoren. Deshalb entwickelten die Experten um Friedrich Wolters Strategien, um die Bevölkerung einzubinden. Weit über planerische Belange hinaus ist die für Russland neuartige Bürgerbeteiligung neben der ökonomischen Stabilisierung eine weitere Säule für eine zukunftstaugliche Entwicklung. Denn solange entscheidende Impulse von oben, sprich von Moskauer Ebene ausbleiben, bleibt Russlands Provinz auf sich selbst angewiesen.

Der Autor arbeitete an Planungsprojekten in Russland und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau u. Landesplanung

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