Achteinhalb Hektar, die die Welt bedeuten

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Macondo, eine Flüchtlingssiedlung am Rande Wiens, ist so groß wie ein durchschnittliches österreichisches Dorf, und trotzdem nahezu unbekannt. In ihrem preisgekrönten Spielfilmdebüt erzählt Sudabeh Mortezai die Geschichte des Ortes aus der Innenperspektive.

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Macondo, eine Flüchtlingssiedlung am Rande Wiens, ist so groß wie ein durchschnittliches österreichisches Dorf, und trotzdem nahezu unbekannt. In ihrem preisgekrönten Spielfilmdebüt erzählt Sudabeh Mortezai die Geschichte des Ortes aus der Innenperspektive.

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Macondo ist ein Ort, der auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Im hintersten Zipfel Wiens, zwischen Ostautobahn, Schrebergärten Müllverbrennungsanlage und einem Einkaufszentrum, versteckt sich eine Flüchtlingssiedlung, in der zwischen 2000 und 3000 Menschen aus 22 Ländern leben. Damit ist die Siedlung so groß wie ein durchschnittliches österreichisches Dorf, und trotzdem nahezu unbekannt. Dabei erzählt in Österreich wohl kein anderer Ort die Geschichten der Kriege und Krisen des vergangenen Jahrhunderts so intensiv wie die Macondo in Kaiserebreichsdorf, Simmering.

Heute stammt die Mehrzahl der Bewohner aus Somalia, Afghanistan und Tschetschenien. Seit 1956 ist auf den achteinhalb Hektar quasi die Welt versammelt. Die ersten Bewohner kamen aus Ungarn, die nach dem Volksaufstand nach Wien geflohen waren. Sie begannen das Gelände zu bebauen, pflanzten Sträucher und planten Gärten. 1968 kamen Flüchtlinge des Prager Frühlings nach Macondo, 1973 folgten nach dem Militärputsch Chilenen. Die Südamerikaner gaben dem einsamen Habsburger-Gemäuer auch den Namen: Der inoffizielle Spitzname stammt nämlich aus Gabriel García Márquez' Roman "100 Jahre Einsamkeit" und beschreibt die Geschichte des fiktiven Ortes Macondo, der von Menschen gegründet wurde, die wegen eines Konfliktes aus ihrer Heimat fliehen mussten. Anders als im Werk des kolumbianischen Autors ist Simmerings Macondo aber ganz real.

Kleine, intensive Geschichte aus dem Alltag

Die Siedlung liegt nahezu unbemerkt an der stark befahrenen Zinnergasse auf dem Gelände einer ehemaligen k.u.k-Artilleriekaserne. Die öffentliche Anbindung ist spärlich, am Sonntag bleibt nicht einmal der Bus dort stehen. Schranken halten ungebetene Besucher fern. Es scheint, als finde man Macondo nur, wenn man es bewusst sucht. Die alten Blechzäune sind mit Graffitis besprayt; "Ghetto Macondo" steht auf einem Stromkasten. Macondo ist zwar kein Ghetto oder Slum, trotzdem wird man das Gefühl nicht los, sich in einem abgeschotteten Armenquartier zu befinden.

Die Kaserne, die Hand voll Gebäudeklötze und die ebenerdigen Baracken aus den 1970er-Jahren werden von Kindergelächter durchzogen. Sie trippeln ihre Bälle, spielen abfangen oder fahren mit ihren Rädern über den gepflasterten Boden. Die Kinder machen den Ton Macondos aus und beleben die verwachsene Siedlung.

Mit Kinderaugen hat Regisseurin Sudabeh Mortezai Mocando im gleichnamigen Spielfilmdebüt zu greifen versucht. Die gebürtige Iranerin Mortezai, die mit preisgekrönten Dokumentarfilmen wie "Im Bazar der Geschlechter" oder "Children of the Prophet" bekannt wurde, wollte Macondo nicht klassisch dokumentarisch angehen.

Sie wollte weg vom voyeuristischen Blick auf die österreichische Migrations- und Flüchtlingssituation. "Ich wollte stattdessen einen Film schaffen, der die Innenperspektive dieser Siedlung zeigt; eine kleine intensive Geschichte, die aus dem Alltag Macondos gegriffen ist", sagt Mortezai. Entstanden ist ein semi-dokumentarisches Filmprojekt, in dem sie die Geschichte des elfjährigen Jungen Ramasan erzählt, der mit seinen zwei Schwestern und seiner Mutter vor dem Krieg in Tschetschenien nach Wien geflüchtet ist (siehe Kasten).

Die Geschichte ist zwar fiktiv, trotzdem er zählt sie von der Realität vieler Bewohner: "Ich habe die Siedlung oft besucht und die vielen Lebensgeschichten, die mir zu Ohren kamen, zu einer fiktionalen verdichtet", sagt die 46-Jährige, die vor vier Jahren das erste Mal die Siedlung betrat. "Fast alle Rollen werden von Laien verkörpert, die eine ähnliche Lebenserfahrung wie die Personen des Films haben."

Die Laiendarsteller leben in der Siedlung oder haben, wie etwa die Sozialarbeiter, mit der dortigen Lebensrealität zu tun. Der junge Hauptdarsteller Ramasan heißt auch im richtigen Leben so und wächst in Macondo auf. Kein Protagonist bekam das Drehbuch vorher zu lesen, ebenso wenig wurden Dialoge auswendig gelernt. Stattdessen erarbeitete die studierte Theater-, Film-, und Medienwissenschaftlerin die Szenen Stück für Stück mit den Schauspielern. "Die Arbeit mit Kindern war besonders spannend, weil sie sehr ungezwungen improvisieren und spontan sind."

Gelebte Nachbarschaft

"Der Dreh war emotional sehr intensiv. Wir drehten mit einem kleinen, nur siebenköpfigen Filmteam", sagt Mortezai. Schließlich wollte sie nicht, dass sich die Bewohner belagert oder von einem Fremdkörper beobachtet fühlten. "Wir wollten die Bewohner einbinden. Es gab beispielsweise kein Catering von außerhalb, sondern es wurde von den Bewohnern gekocht."

Die Geschichte aus Kinderperspektive zu erzählen, war der Regisseurin ein wichtiges Anliegen. Mortezai kam als 12-Jährige von der iranischen Hauptstadt Teheran nach Wien und weiß deswegen, wie schwierig die Situation für Kinder ist, die zwischen den Kulturen aufwachsen und, so Mortezai, viel zu schnell erwachsen werden und Verantwortung übernehmen müssen.

Macondo ist ein Ort mit eigenen Regeln. Hier passiere, so Mortezai, vieles in der Gemeinschaft. "Man hat das Gefühl, dass Nachbarschaft hier mehr gelebt wird", sagt die Regisseurin. Natürlich sei aber auch das Miteinander nicht immer einfach; schließlich gestaltet sich ein Zusammenleben bei 22 Herkunftsnationen etwas schwieriger. Es scheint, als organisiere sich Macondo selbst.

Einer der schönsten Momente für Mortezai war es, als sie den Film mit den Bewohnern Macondos sah. "Ich war davor etwas nervös." Als die Protagonisten den Film sahen, war die Atmosphäre sehr konzentriert. "Es gab wenig Gelächter. Sie lebten mit dem Film mit." Das zeigt wohl, dass sich die Bewohner vom Film wiedergegeben fühlen.

Seit knapp 15 Jahren sind die Mietverträge in der Siedlung auf fünf Jahre befristet. Auch der Hauptprotagonist Ramasan wird aus Macondo bald wegziehen. Wenn er Glück hat, findet seine Familie eine Wohnung mitten im Wiener Leben und nicht abgeschottet und verbarrikadiert, wie hier, in Wiens einzigartiger Flüchtlingssiedlung.

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