Adornos Alternativen

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11. September: Bedeutender als der Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001 sei die Geburt des Denkers Theodor W. Adorno, meinte Peter Sloterdijk. Für ganze Generationen des 20. Jahrhunderts war er Anstoß zum kritischen Denken. Eine Bilanz zum 100. Geburtstag.

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11. September: Bedeutender als der Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001 sei die Geburt des Denkers Theodor W. Adorno, meinte Peter Sloterdijk. Für ganze Generationen des 20. Jahrhunderts war er Anstoß zum kritischen Denken. Eine Bilanz zum 100. Geburtstag.

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Adornos Skepsis gegen Biografien hat ihn nicht vor seiner eigenen bewahrt: Zum 100. Geburtstag sind gleich deren drei erschienen - die opulenteste bringt es auf über 1.000 Seiten. Hätte man ihn gründlicher musealisieren können? Alle sind sie weitschweifiger und manchmal geschwätziger, jedenfalls aber leichter zu lesen als Adorno selbst - kein Kunststück bei den vertrackten Sätzen und den vielen Fremdwörtern Adornos - seine Waffen gegen den "Jargon der Eigentlichkeit", den er bei Martin Heidegger, aber auch am abendländisch-tiefsinnigen Gerede öffentlicher Debatten kritisierte.

Vordenker von 1968

Adorno war der unangefochtene Star der 1968er-Intellektuellen in Deutschland. Die Sprengkraft seiner fundamentalen Kritik ist am leichtesten zu entschärfen, wenn man ihn zum "Salon-Revoluzzer" (profil) oder "Allround-Intellektuellen" (Der Spiegel) stempelt und genüsslich die Widersprüche zwischen Theorie und eigener Lebenspraxis hervorhebt: der Gesellschaftsveränderer, der großbürgerlich lebt, der Verdammer des Fernsehens, der privat gerne "Daktari" schaut, der Anwalt der Zivilcourage, der manchmal auch klein beigab, der Medienkritiker als früher Medienstar.

Der Lebensweg vom Knaben Teddie (so nannte ihn die Familie) Wiesengrund zum berühmten Professor Adorno war weit. Der Sohn des jüdischen Frankfurter Weinhändlers Oscar Wiesengrund und der italienischen Sängerin Maria Calvelli-Adorno wurde katholisch getauft, war ein behütetes Wunderkind, studierte Philosophie, Musikwissenschaft und Psychologie, habilitierte sich im zweiten Anlauf bei dem protestantischen Theologen Paul Tillich über Kierkegaard und verlor nach drei Semestern seine Lehrbefugnis unter der NS-Herrschaft. Zögerlich und nach etlichen Fehleinschätzungen der politischen Lage entschloss sich Adorno zur Emigration.

Dialektik der Aufklärung

Im amerikanischen Exil schrieb er mit Max Horkheimer die "Dialektik der Aufklärung". Sie ist von der Frage getrieben, warum gerade die Aufklärung umschlagen konnte in die "große Barbarei", wie Adorno den Nationalsozialismus oft bezeichnete. Zentrale Antwort: Die Beherrschung der Natur wird zur Beherrschung des Menschen - eine Argumentation, die etwa angesichts der Entwicklungen der Gen-Technologie durchaus überlegenswert ist, auch wenn die "Dialektik der Aufklärung" mittlerweile von allen gerne im Munde geführt wird, die die Aufklärung schon immer diffamieren wollten.

Als zweite Heimat bezeichnete Adorno nicht sein Exilland, die USA, sondern Wien, wo er 1925-27 gewohnt und bei Alban Berg Kompositionsunterricht genommen hatte. Der Zwölftonmusik blieb Adorno, der notorische und manchmal auch bornierte Gegner des Jazz und erst recht der Unterhaltungsmusik, als Kritiker und durch viele Analysen verbunden. Er hat aber auch einen wesentlichen Anteil an der "Entdeckung" und richtigen Einschätzung des Werkes von Gustav Mahler, die uns heute längst selbstverständlich ist.

Wien, dessen Moderne ihn wesentlich geprägt hat, blieb für Adorno ein Bezugspunkt. Bei seinen Besuchen in den sechziger Jahren war ihm Lotto Tobisch eine wichtige Gesprächspartnerin. Ihr ist der Wien-Essay des Bandes "Eingriffe" gewidmet. Im Oktober erscheinen im Droschl Verlag die Briefe, die Adorno ihr geschrieben hat. Das offizielle Wien hingegen hält sich zu Adornos 100. Geburtstag bedeckt: kein großes Symposium, keine Ausstellung, auch kein Platz und keine Straße, die hier nach dem Denker benannt werden, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass die aus Wien kommende Musik des 20. Jahrhunderts den Stellenwert hat, der ihr heute zukommt.

Kunst nach Auschwitz

"Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch." Kaum ein Satz von Adorno ist öfter - und meist falsch - zitiert worden als dieser. In langer Auseinandersetzung mit dem Dichter Paul Celan hat Adorno den Satz auch zurückgenommen - und gleichzeitig radikalisiert, wenn er schreibt: "Man hat überhaupt nur dann irgendeine Aussicht, den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte standzuhalten, wenn man keinen Augenblick die Paradoxie dessen vergisst, dass man danach überhaupt noch weiterlebt." Beide Fragen - die nach dem Gedicht und die nach dem Leben nach Auschwitz - sind gegen die Gedächtnislosigkeit der Nachkriegs- und Wiederaufbauzeit geschrieben, dagegen, dass das Leben einfach weitergeht und die Kunst eben die Kunst bleibt. Eher als der rationalen Erkenntnis traute es Adorno der Kunst zu, das Leiden auszudrücken. In seiner "Ästhetischen Theorie" steht der Satz: "Leiden, auf den Begriff gebracht, ist stumm und konsequenzlos: das läßt in Deutschland nach Hitler sich beobachten."

Unmögliche Erlösung

"Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint; alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik." So beginnt der letzte Text von Adornos "Minima moralia". Wer Alternativen entwickeln will, kann dies nur aus einer Perspektive heraus tun. Und deswegen schreit für Adorno die schlechte Wirklichkeit nach dem Gedanken der Erlösung. Aber er hält sie auch für ganz und gar unmöglich, weil sie einen Standpunkt, einen Blick von außen voraussetzt, den der Mensch nicht einnehmen kann. In dieser Ablehnung des Erlösungs-Gedankens kommt auch das jüdische Erbe Adornos zu Wort. Er kann mit wenigen Worten die Größe und Ungeheuerlichkeit dieser Vorstellung bewusst machen, auch wenn er sie nicht teilt.

Umfassende Veränderung

Geblieben ist bei Adorno der Anspruch auf Veränderung. Es ging ihm um einen Standpunkt, der die inhaltlichen Fixierungen der Metaphysik ebenso vermeidet wie ein von ihm als positivistisch gebrandmarktes Konstatieren und Klassifizieren von Daten. Das entfachte die als "Positivismusstreit" bekannt gewordene Debatte mit Karl Popper und Hans Albert. Adorno ging es um eine "kritische Theorie", die vom Anspruch umfassender Veränderung ausgeht. Es gehört zu seinen Stärken und gleichzeitig zu seinen Schwächen, dass er sich geweigert hat, die Koordinaten dieser Kritik klar zu definieren. Die Unabgeschlossenheit und vor allem die Weite seines Denkens, die nicht nur Philosophie und Soziologie umfasst, sondern sich ebenso selbstverständlich mit Kafka, Beckett oder "Lyrik und Gesellschaft" auseinandersetzt, machen noch immer die Faszination Adornos aus.

Biografien

Für den Stellenwert seines Denkens heute werfen die Biografien erstaunlich wenig Diskussionsgrundlage ab. Am flüssigsten ist Lorenz Jägers "politische Biographie" geschrieben, oft jedoch um den Preis allzu einfacher Urteile. Müller-Doohms "offiziöse" Suhrkamp-Biografie bietet unentbehrliches Material, in dessen Fülle sie des öfteren selbst ertrinkt, und Detlev Claussen bringt viele Adorno-Zitate zum Sprechen, aber die Verehrungs-Perspektive des Ex-Schülers ist bisweilen zu deutlich und die Vorgeschichte der jüdischen Assimilation in Deutschland zu umfangreich. Die Bild-Monografie des Adorno-Archivs enthält viele unbekannte private Texte.

Wer sich für den Menschen Theodor Wiesengrund-Adorno interessiert, muss diese drei Biografien und die vom Adorno-Archiv herausgegebene Bildmonografie lesen. - Wer nicht glaubt, dass wir in der besten aller Welten leben, dass uns die neue Medienwelt am besten informiert und unterhält und der wirtschaftliche Neoliberalismus die Bedürfnisse möglichst vieler Menschen am besten befriedigt, muss - noch immer - Adorno lesen. Zum Geburtstag hat Suhrkamp eine Auswahl seiner "Hauptwerke" herausgebracht.

Der Autor gestaltet in dieser Woche die Ö1-Sendereihe "Gedanken für den Tag" über Adorno.

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