Ästhetische "Ekelschranken“

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Spätestens seit Gerhard Schulzes "Erlebnisgesellschaft“ und den diversen Sinus-Milieustudien ist unübersehbar, dass Stil und Ästhetik zunehmend an jene Stelle treten, die früher Weltanschauungen und Religionen eingenommen haben und als zentrale Identitäts-, Orientierungs- und Vergemeinschaftungsstrategien funktionieren. Uns trennen nicht mehr so sehr religiöse oder politische Gräben, vielmehr ästhetische "Ekelschranken“. Wer volkstümelnde Musiksendungen liebt, lebt in einer anderen Welt, als jener, der zu Stockhausen-Konzerten pilgert oder sich Heavy Metal gibt.

Für die alten Weltanschauungen und Religionen aber heißt das: Sie differenzieren sich intern in unterschiedliche Stile und Ästhetiken aus, die einander ziemlich verständnislos, manchmal aggressiv gegenüberstehen. Und dann ist es noch eher gut gelaufen. Wenn es schlecht läuft, erreichen Religionen Menschen mit spezifischen Ästhetiken gar nicht mehr, tun sie so, als ob sie selbst an spezifische Stile gebunden wären. Das begrenzt ihre eigene Reichweite dramatisch.

Im Laufe der Jahre habe ich mir ein ganz einfaches Kriterium für den Blick auf fremde Frömmigkeitsstile zurechtgelegt. Es hilft mir, meine eigenen, im Erleben nur sehr bedingt überschreitbaren Stilschranken wenigstens ein wenig zu relativieren. Es steht Matthäus 7,16: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“. Alle Frömmigkeitsstile, die zu mehr Glauben, mehr Hoffen und vor allem mehr Lieben führen, sind herzlich willkommen. Denn wer hätte das Recht, den eigenen persönlichen Stil anderen vorzuschreiben? Jene jedenfalls, die nur einen, nur ihren Frömmigkeitsstil gelten lassen, sind eines sicher nicht: fromm. Denn ihnen fehlt ein grundlegendes Merkmal christlicher Frömmigkeit: die Einsicht in die eigene Begrenztheit, die bescheidene Selbstrelativierung.

* Der Autor ist kath. Pastoraltheologe an der Universität Graz

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