Aggiornamento auch für die Bibel

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Trotz vieler Kompromisse ermöglichte das II. Vatikanum einen neuen Blick auf die biblischen Schriften und ihre Bedeutung.

Für mich als 1966 "Nachgeborene" ist es selbstverständlich, dass im Sonntagsgottesdienst der "Tisch des Wortes" reich gedeckt ist und alttestamentliche Lesungen ihren Platz haben (wenn auch zu oft von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, nur einen der beiden Schrifttexte vor der Evangelienlesung vorzutragen). Meine biblische Ausbildung im Theologiestudium war geprägt von der historisch-kritischen Exegese, die erst 1943 begrenzt anerkannt und im Konzil dann empfohlen worden war - noch 1961 waren zwei historisch-kritisch arbeitende Professoren des päpstlichen Bibelinstituts abgesetzt worden. Mit dem Dokument zur Interpretation der Bibel in der Kirche stellt die Päpstliche Bibelkommission 1993 eine Reihe exegetischer Zugehensweisen positiv vor. Neben der historischen Kritik würdigt sie etwa die befreiungstheologische und die feministische Auslegung. Als einzigen Zugang lehnt die Kommission den Fundamentalismus ab. Die Anerkennung des Methodenpluralismus, der die heutige exegetische Landschaft prägt, gehört zur Wirkungsgeschichte des Konzils.

Vom Rand ins Zentrum

Der Stellenwert biblischer Schriften in der liturgischen und pastoralen Praxis, in der theologischen Ausbildung und der persönlichen Spiritualität hat sich in den letzten vier Jahrzehnten ebenso fundamental gewandelt wie das Selbstverständnis der Bibelwissenschaften und der theologische Ort biblischer Theologie: Von der Randlage ist die Bibel ins Zentrum der Kirche gerückt. Sie bildet das bleibende Fundament der Theologie. Ihr Studium kann deshalb als Seele der Theologie angesehen werden (dv 24).

Das Aggiornamento der Kirche, die vom II. Vatikanum angestoßene Verheutigung, geht Hand in Hand mit einer verstärkten Rückbindung an die Wurzeln. Sichtbar wurde diese Haltung in der Inthronisation des Evangeliars in der Konzilsaula: Die Bibel ist die höchste Richtschnur des Glaubens (dv 21). Die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum (dv) ist das Herzstück einer Erneuerung, die auch in einzelnen Aussagen anderer Dokumente, etwa der Liturgiekonstitution (vgl. Furche 39) oder dem Dekret zur Ausbildung der Priester ihren Ausdruck findet.

Geschichtlichkeit der Bibel

Basis der Neuorientierung ist der gewandelte Offenbarungsbegriff hin zu einem personalen Verständnis: Offenbarung ist kein Kundtun von Glaubenswahrheiten oder -sätzen, sondern Gottes Selbstmitteilung (dv 2) in Wort und Ereignis. Das Wort der Schrift sagt nicht dies oder jenes über Gott aus, sondern in ihm gibt Gott sich selbst zu erkennen und spricht sich den Menschen zu.

Der personale Offenbarungsbegriff ermöglicht einen Abschied von Missverständnissen und einen angstfreien Aufbruch in die weiten Räume zeitgemäßer Schriftauslegung. Die biblischen Schriften sind von "echten Verfassern" in ihrem historischen und kulturellen Kontext geschrieben worden, also ist die Bibel keine Sammlung zeitloser Satzwahrheiten. Die Vorstellung von der Irrtumslosigkeit kann zu Gunsten eines personalen Wahrheitsbegriffs zurückgestellt werden. Wenn das Konzil Methoden der historischen Kritik nicht nur akzeptiert sondern auch fordert, dann ist das keine Frage des angemessenen Handwerkszeugs, sondern eine theologische Grundsatzentscheidung. Hier wird die Geschichtlichkeit der Offenbarung radikal ernst genommen. Die Zuwendung Gottes geschieht gerade in Zeit und Geschichte, in zeitgeprägten Worten und Textformen. Die Bibel kann weder in der Theologie noch in lehramtlichen Texten als Steinbruch für "wahre Sätze" missbraucht werden, und so manche scheinbar entschiedene Frage erschiene in neuem Licht, würde dies wirklich ernst genommen.

Die hörende Kirche

Die Schrift ist insofern auf die kirchliche Gemeinschaft angewiesen, als sie der gelebten Auslegung zu ihrer Aktualisierung bedarf. Deshalb wird die Kirche zuallererst als Hörende konzipiert (dv 1). Das gilt für alle ihre Teile. Auch das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm. (dv 10) Die Schriftauslegung ist ein lebendiger Prozess, an dem alle beteiligt sind. Hier steht das Studium der Gläubigen noch vor der geistlichen Erfahrung und der amtlichen Verkündigung (dv 8). Deshalb haben die professionellen Theologen und Theologinnen dafür Sorge zu tragen, dass die biblischen Schriften in geeigneten, am Urtext orientierten Übersetzungen und mit Auslegungshilfen allen Menschen, auch den nichtchristlichen (dv 25), zur Verfügung stehen.

Ökumenische Chancen

Das Konzil distanziert sich von einer "Zwei-Quellen-Lehre", indem es der Schrift gegenüber der Tradition die höhere Autorität zuerkennt. Eine exakte Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition geschieht aber nicht. Gerade an dieser Stelle waren die Meinungsverschiedenheiten während der Konzilsaula besonders groß. Dei Verbum beziehungsweise ihre Vorlage De fontibus revelationis wurde sechsmal abgestimmt. Im Ringen um einen Konsens ist dann wohl auch manche Klarheit verloren gegangen. So drückt der damalige Tübinger Dogmatiker Joseph Ratzinger in seinem im Lexikon für Theologie und Kirche 1967 erschienenen Kommentar zu dv 8 sein Unbehagen aus: "Das Vaticanum II hat in diesem Punkt bedauerlicherweise keinen Fortschritt gebracht, sondern das traditionskritische Moment so gut wie völlig übergangen. Es hat sich damit einer wichtigen Chance des ökumenischen Gesprächs begeben." Insgesamt ist aber Dei Verbum als ökumenische Wegbereiterin verstanden worden. Die Einheitsübersetzung ist eine praktische Frucht des ökumenischen Anliegens (vgl. dv 22). Dass die nun anstehende Überarbeitung der Einheitsübersetzung nicht mehr von den Kirchen gemeinsam getragen werden wird, ist ein bitteres Signal.

Hoffnungsvoller scheint die Entwicklung der Bibelhermeneutik im Horizont des jüdisch-christlichen Gesprächs zu verlaufen. Die Aussagen zur Bedeutung des Alten Testaments in dv 14-16, aber vor allem die Distanzierung von der Substitutionstheorie (nach der das Christentum das Judentum als erwähltes Volk abgelöst hat) und die Anerkennung des jüdischen Heilswegs in der Konzilserklärung Nostra Aetate (vgl. letztwöchige Furche) haben den Weg für beeindruckende theologische Entwicklungen geebnet. Zwar liest Dei Verbum das Alte Testament noch als Vorbereitung des Evangeliums, aber die Möglichkeit der Anerkennung des doppelten Ausgangs der Hebräischen Bibel im rabbinischen Judentum und im Christentum wird im Dokument der Päpstlichen Bibelkommission Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel" (2001) lehramtlich anerkannt.

Viele Anstöße des Konzils wurden umgesetzt, manche Interpretation konziliarer Aussagen steht noch aus. Es ist zu hoffen, dass die bibeltheologischen Anliegen des Konzils nicht "im Sprung gehemmt" (Bischof Krätzl) werden.

Die Autorin ist Professorin f. Altes Testament an der Universität Kassel.

Nächste Woche Teil VII der Konzils-Serie: LAIEN - MEHR ALS HALBE CHRISTEN?

Chronologie

Oktober 1960: Die Theologische Vorbereitungskommission (Vorsitz: Kardinal Ottaviani) legt einen Entwurf ("Schema") über die Göttliche Offenbarung vor, der die extrem konservativen Zugänge zur Bibel festschreibt: Die Tradition wird mehr oder weniger gleichberechtigt zur Bibel als Quelle der Offenbarung gesehen, die biblischen Texte sollen als wörtlich von Gott inspiriert gelten, die Schrift sei irrtumslos "auf jede religiöse und weltliche Angelegenheit", die Evangelien sind als historische Berichte wörtlich zu nehmen.

Herbst 1962: Um das Schema entbrennt der erste große theologische Konflikt auf dem Konzil. Legendär der Ausspruch des greisen Kardinal Liénart, Erzbischof von Lille: "Dieses Schema gefällt mir nicht." Ähnlich äußern sich Kardinäle wie Alfrink (Utrecht), Bea, Frings (Köln), König. Der Papst setzt die Debatte aus und beauftragt eine Kommission unter gemeinsamer Leitung der Protagonisten der Konservativen (Ottaviani) und Erneuerer (Bea) mit einem neuen Text.

Herbst 1964: Diskussion des neuen Entwurfs "Über die Offenbarung", der offenere Formulierungen, aber keine substanziellen Neuerungen zum ersten Text beinhaltet. Zahlreiche Überarbeitungen folgen.

Herbst 1965: Neuerliche Behandlung im Konzilsplenum; es gelingt zu den strittigen Punkten (Verhältnis von Schrift und Tradition, Irrtumslosigkeit der Schrift, Historizität der Evangelien) Formulierungen zu finden, mit denen Konservative wie Erneuerer leben können.

18. Nov. 1965: Die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung "Dei Verbum" wird promulgiert. ofri

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