Agieren Gene neoliberal?

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Wieder einmal werden biologische Erkenntnisse mißbraucht, um politische und gesellschaftliche Ziele zu legitimieren - die Biologen bleiben dabei nicht immer unbeteiligte Zuschauer.

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Wieder einmal werden biologische Erkenntnisse mißbraucht, um politische und gesellschaftliche Ziele zu legitimieren - die Biologen bleiben dabei nicht immer unbeteiligte Zuschauer.

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Spiegeln Aufbau und Organisation der tierischen Zellen die heutige Organisation der menschlichen Gesellschaft wider? Die Frage steht im Raum, seit die amerikanischen Neodarwinisten, die sich in und außerhalb der Biologie lieber als Postmoderne bezeichnen, in der Ära Reagan Aufwind bekamen und auch in die europäische geistige Welt ausstrahlten.

Der Egoismus der Zellen und damit ihr Drang nach Aneignung von Ressourcen zur eigenen Vermehrung, so wird postuliert, gebe die Triebkraft für die Evolution bis zum Menschen ab, womit das gesellschaftliche Prinzip, der Egoismus des Einzelnen sei die "Lokomotive der Entwicklung", als naturgegeben bestätigt werde. Mit einer gewissen Befriedigung kann man an Wolfgang Wiesers "Die Erfindung der Individualität oder Die zwei Gesichter der Evolution" sehen, daß zumindest in Innsbruck die europäischen Wissenschaftler nicht schlafen.

Wieser gibt in diesem wichtigen Werk eine konzentrierte, präzise Darstellung der Erkenntnisse der heutigen Biologie. Dabei geht es ihm um das Zusammenspiel von Phänotyp und Genotyp. Letzterer bestimmt das Potential der gesamten ererbten Eigenschaften, während der Phänotyp all die Eigenschaften umfaßt, welche der Organismus im Verlauf seiner Beziehungen zur Umwelt aus dem genotypischen Potential entwickelt hat. Einst sahen die Biologen im Organismus einen hierarchischen Ordnungsfaktor, der demjenigen der menschlichen Gesellschaft entsprechen sollte. Da die Gegebenheiten des menschlichen Körpers mit den damaligen Untersuchungsmethoden sehr verschieden gedeutet werden konnten, zogen alle Seiten aus den Forschungsergebnissen jeweils günstige Schlüsse. Seither haben sich die technischen Möglichkeiten in der biologischen Forschung rasant entwickelt. Die Funktion der Zellen, 0ihr Zusammenspiel oder Gegeneinanderwirken, ihre Evolution von der ungeschlechtlichen Vermehrung durch einfache Teilung bis zu den komplexeren Organismen mit sexueller Vermehrung, wird von Wieser in klarer Sprache dargestellt.

Primitive Egoisten Wenn auch in neuer Form, mußte in der wissenschaftlichen Diskussion bald die alte Frage auftauchen, wer bei den komplexen Organismen das Endprodukt bestimme: Ist es der Phänotyp, der die genetische Masse benützt und solcherart eine eigene Individualität aufbaut, oder ist es der Genotyp, welcher einen Phänotyp nach seinen Bedürfnissen aufbaut?

Im Zentrum dieser Auseinandersetzung stehen die Fragen nach den Mechanismen der Evolution und dem Funktionieren des Immunsystems. Wieser beschreibt die einfachen Organismen, die sich durch Teilung vermehren, als Prototyp allen Lebens, dessen einziges Ziel in der heutigen Sicht der Evolutionsbiologie darin besteht, sich zu vermehren. 80 Prozent der Biomasse bestehen aus ihnen. Hier ist ausschließlich der Genotyp mit seinen ererbten Fähigkeiten am Werk. Doch mit der wachsenden Komplexität der Organismen "nimmt die Bedeutung des Phänotyps zu. Das Spektrum der Expressionsmöglichkeiten genetischer Programme wird immer reichhaltiger, vernetzter und differenzierter." Der Phänotyp, also die in der Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelten Ausbildungen des Genotyps, muß zu immer mehr eigenständigen Entscheidungen in der Lage sein. "Diesem Ziel dienen informationsverarbeitende Netze," die ihre Möglichkeiten zwar aus dem Genotyp beziehen, daraus jedoch in Wechselwirkung zur Umwelt neue Überlebensstrategien entwickeln.

Der Autor vergleicht diese Situation mit der eines vergeßlichen Schauspielers und seines Souffleurs: Der Schauspieler mag extemporieren, der Souffleur holt ihn immer wieder zum vorgegebenen Text zurück. Fehler müssen nicht immer schlecht sein, und eine Variante mag, um beim Bild zu bleiben, so gut ins Stück passen, daß man sie für die nächste Vorstellung beibehält und der Souffleur sie in seinen Text einträgt, und schon hätten wir eine vom Phänotyp verursachte, neue Erbschaftslinie. Auf diesem Niveau, das Wieser das mittlere Netz nennt, müssen sehr viele Probleme gelöst werden, vor allem aber die Aufgabe, aus vielen Zellen einen vielzelligen Organismus zu konstruieren. Trotz "historischer Hypotheken" (der Souffleur) und systembedingter Auflagen ist es so dem Organismus immer wieder gelungen, "dauerhafte Lösungen für das Überlebensproblem zu finden".

Der Neodarwinist Richard Dawkins sieht dagegen die entscheidende Funktion bei den Genen, denn der Körper des Individuums bedeute für die Gene die Möglichkeit, mehr Gene zu produzieren. Gene seien "prinzipiell egoistisch" und wollten nichts anderes, als sich zu reproduzieren. Was immer der Organismus an adaptiven Leistungen vollbringt, meint Wieser dazu, stamme aus dieser Sicht also von den Genen und nicht, wie die Neodarwinisten andererseits behaupten, von der individuellen Selektion. Doch wer garantiere den Millionen Zellen die Fortdauer der Reproduktion, wenn nicht der Organismus und sein "integrierendes System, das zwischen den egoistischen Interessen der Gene Kompromisse herstellt und die Summe dieser Kompromisse der Umwelt gegenüber vertritt"?

Zwar nicht einzige, aber wichtigste Einheit der Selektion wäre also wieder der Phänotyp, damit aber, setzt der Autor Dawkins' These fort, wäre der Körper das Mittel, mit dem die Evolution die widersprüchlichen Interessen der Gene unter einen Hut bringt.

Man sieht hier, daß Wieser den Neodarwinisten nicht frontal entgegentritt, sondern nur ihre logischen Kurzschlüsse insofern aufzeigt, als er ihre Erkenntnisse vervollständigt. Damit bleibt aber von der ideologischen Interpretation wissenschaftlicher Ergebnisse nicht mehr viel übrig. Damit fällt auch der Versuch, Parallelen zur Gesellschaft zu ziehen und das brutale neoliberale Wettbewerbssystem mit dem angeblichen Kampf der Gene um die Maximierung der eigenen Ressourcen als Grundprinzip der Natur zu rechtfertigen.

Die extreme Komplexität des Körpers der höheren Tiere und des Menschen wird besonders deutlich vom Immunsystem und seiner Fähigkeit veranschaulicht, Abwehrkräfte gegen Eindringlinge zu mobilisieren. Daher zieht man es gerne als Beweis für die jeweilige eigene These heran. Leo Buss, ein renommierter amerikanischer Wissenschaftler, ist führender Vertreter der Ansicht, daß das Immunsystem dadurch funktioniere, daß es die inhärente Neigung der Zellen ausbeute, egoistisch ihre eigene Replikationsrate zu vergrößern. Doch gerade in der enormen Variabilität der Schlüsselzellen (Immunoglobuline und T-Zellen-Rezeptoren), hält Wieser ihm entgegen, spiegle sich die "ganz ungewöhnliche Fähigkeit von Lymphozyten, gewisse Regionen ihrer Genome aufbrechen und neu kombinieren zu können". Kurz, hier sind nicht blind-dumme, gierige Zellen am Werk, sondern offenbar die Intelligenz des Phänotyps, dessen Fähigkeiten im Immunsystem bis zum zielgerichteten Mutieren von Zellen reichen.

Es ist die Trennung von Keimbahn, also dem augenblicklich fixierten Genotyp, und Soma, all den körperlichen Reaktionen, welche die Einzigartigkeit des Individuums bewirken. Vor allem aber "verdankt der Phänotyp seine Einzigartigkeit der Spezifität, mit Immunsystem und Gehirn sämtliche Einflüsse aus der Umwelt zu verarbeiten, so daß sogar genetisch identische Angehörige eines Klons den Charakter von Persönlichkeiten mit jeweils einzigartigen Lebensläufen erwerben." Durch das vielfache Zusammenspiel tausender genetischer Einheiten komme jene Vielzahl von Kompromissen zustande, die es ermöglichen, den "individuellen Organismus als Einheit der Selektion" zu sehen. Dieser Einheit sei nicht nur auferlegt, Anweisungen des Genoms zu befolgen, sondern der Phänotyp vermag solchen Anweisungen auch zu widersprechen. Wieser: "In diesem Sinn spreche ich von zwei Gesichtern der Evolution, und vergleiche das sich reflektierende Individuum mit einer Erfindung, in der sich die biologische Evolution gleichsam selbst betrachtet und kommentiert."

Auch wenn es nur ein humanistischer Wunschtraum sein mag: Auch wenn die Aussagen der Neodarwinisten den egoistischen Shareholdern, den nur am Gewinn interessierten Aktionären, noch so willkommen sein mögen - das Gegenbild zum erbarmungslosen Kampf aller gegen alle um Maximierung der eigenen Ressourcen, das auf der Ebene der Einzeller funktionieren mag, hat noch nicht ausgespielt. Seine Vertreter stützen sich, als Vorbild für die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, auf das widersprüchliche, konsensuale, innovative Zusammenspiel des Immunsystems.

DIE ERFINDUNG DER INDIVIDUALITÄT oder Die zwei Gesichter der Evolution Von Wolfgang Wieser Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1998 618 Seiten, Ln., öS 424,-/e 30,81

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