Akten, die Kriegsopfern ihre Würde zurückgeben

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Informationen zu Millionen Zwangsarbeitern, KZ-Häftlingen und Deportierten aus dem Zweiten Weltkrieg warten Ein Kärntner hat beim Suchdienst des Österreichischen Roten Kreuzes nachfragt und nach 60 Jahren beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen darauf, von Betroffenen oder Angehörigen abgefragt zu werden. seinen französischen Vater gefunden und zwei Geschwister gewonnen.

Ein ganzes Dorf im Kärntner Gailtal hat fast 55 Jahre lang dichtgehalten: Erst beim Begräbnis seines Stiefvaters Ende 1999, Dietmar Stöfan ist gerade dabei, nach dem Leichenschmaus das Wirtshaus zu verlassen, da ruft ihn ein alter Bauer zu sich an den Tisch und fragt: "Weißt du eigentlich etwas von deinem richtigen Vater?" Dietmar Stöfan bleibt die Luft weg; dass der vor wenigen Stunden eingegrabene Mann sein Stiefvater gewesen ist, hat er gewusst, weil auf seiner Geburtsurkunde der Vatersname fehlt; doch nachzufragen hat sich Dietmar Stöfan nie getraut und gesprochen wurde nicht darüber - nicht in der Familie, nicht im Dorf. Bis zu diesem Begräbnistag, an dem der alte Bauer von seinem französischen Freund "Maxl" erzählt: Der war während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsarbeiter im Dorf; er war sehr beliebt, weil er als einer der wenigen Deutsch gelernt und den Kontakt zu den Einheimischen gesucht hat; gleich nach dem Krieg ist er wieder in seine Heimat zurückgekehrt - und im Jänner 1946 ist Dietmar Stöfan geboren; und viele im Dorf haben ihm beim Aufwachsen zugeschaut und sich dabei nicht nur einmal gedacht: "Der Bub ist das Ebenbild vom Maxl."

Schicksale der zivilen Kriegsopfer

Eigentlich hat "Maxl" ja Marcel Levèel geheißen - zu Kriegsende war er einer von Millionen Verschleppten auf deutschem Reichsgebiet. Alle zugänglichen Informationen zu diesen Menschen wurden in den Jahrzehnten seit dem Krieg vom Internationalen Suchdienst (ISD) im hessischen Bad Arolsen zusammengetragen, geordnet, aufbewahrt und ausgewertet. Mehr als 50 Millionen Einzelinformationen zu den zivilen Opfern des Zweiten Weltkriegs sind in Bad Arolsen gesammelt: Namen, Geburts-und Meldedaten und vieles mehr, von der Fieberkurve in einem deutschen Krankenhaus bis zu Betriebsfragebögen in Konservenfabriken, bis zu Todeslisten aus Konzentrationslagern; die Kriegsgeschichte von Millionen Zwangsarbeitern, Deportierten oder Häftlingen in Konzentrationslagern und anderen Haftanstalten lagert beim ISD; all das, was man in Zahlen und Zeilen gegossen über die Schicksale von 17,5 Millionen Menschen finden konnte - zu rund zweieinhalb Millionen von ihnen hat Bad Arolsen in den letzten mehr als 60 Jahren Auskünfte erteilt, allein im letzten Jahr waren es knapp 250.000 Anfragen.

Mutter schweigt, Enkerl sucht

Dietmar Stöfan hingegen will nach dem Gespräch mit dem alten Bauern nicht mehr sehr viel nach seinem französischen Vater weiterforschen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass seine Mutter, nachdem sie ihr Sohn mit seinem "neuen Wissen" konfrontiert hat, noch immer nicht sehr offenherzig über diese Zeit und den französischen Kindsvater erzählen will. Ihre damalige Situation: der Krieg aus, sie schwanger, der ausländische Vater weg, ist auch sicher alles andere als einfach gewesen - doch zumindest kann sie sich noch erinnern, wo Marcel Levèel hergekommen ist: aus Bayeux in der Normandie. Das wird später weiterhelfen, denn die Reaktion der erwachsenen Tochter von Dietmar Stöfan ist ganz anders. Die freut sich: "Dann hab' ich ja jetzt noch einen Opa!" - und sie ergreift die Initiative und nimmt mit den wenigen Informationen, die sie über ihren Großvater hat, den Kontakt mit dem Suchdienst des Roten Kreuzes in Wien auf. Rund 300 Anfragen die Zeit des Zweiten Weltkriegs betreffend langen noch immer jährlich beim hiesigen RK-Suchdienst ein - und zu 90 Prozent sind es heute, so wie bei Stöfan, die Enkelkinder, die nach einer Schicksalsklärung suchen.

Auskünfte zu solchen Schicksalsklärungen oder zum Nachweis des Aufenthalts in Konzentrations-oder Arbeitslagern zu erteilen, das sind die heutigen Hauptaufgaben des ISD in Bad Arolsen. Insofern ist der Name "Suchdienst" irreführend; diese Bezeichnung stammt noch aus der Nachkriegszeit, wo es in Arolsen darum ging, vermisste oder verschleppte Personen zu suchen und getrennte Familien zusammenzubringen. Um dem erwarteten Chaos durch die von den Kriegswirren in alle Richtungen verstreute europäische Bevölkerung Herr zu werden, hat das Britische Rote Kreuz bereits 1943 in London ein Suchbüro gegründet. 1946 ist diese Stelle nach Hessen übersiedelt und unter die Leitung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und die Kontrolle von elf Staaten gestellt worden. Warum gerade Arolsen? Die pragmatische Antwort lautet: Das Barockstädtchen war unzerstört und verfügte sowohl über größere Gebäude als auch über intakte Telegrafen-und Telefonverbindungen, und es lag inmitten der vier Besatzungszonen. Ein großer logistischer Vorteil, hieß es doch "Befehl 163" der Alliierten umzusetzen, der die Übermittlung aller Daten zu Zwangsarbeitern, Häftlingen und Deportieren aus deutschen Gemeindestuben wie Unternehmen nach Arolsen anschaffte.

25 Kilometer Informationen

"Archiv der Unmenschlichkeit" hat ein Historiker den ISD einmal genannt. Doch das beschreibt nur die halbe Wahrheit: Mit der Wertschätzung, die Bad Arolsen jeder Information und damit jedem zivilen Opfer des Zweiten Weltkriegs entgegenbringt, wird der in der NS-Zeit verloren gegangenen Menschlichkeit wieder ein Stück weit zu ihrem Recht verholfen. Über 25 Kilometer Informationsmaterial, Blatt an Blatt hochkant gereiht, lagern im ISD. Von außen ist dem in den 1950er-Jahren errichteten Gebäude weder seine Bedeutung für die Geschichtswissenschaft, noch für das je einzelne Leben von unzähligen Opfern des NS-Regimes anzusehen. Der Bau, gelegen an einer prächtigen Allee, ähnelt mit seinen großen Fenstern eher einem Krankenhaus; und die Rot-Kreuz-Fahne vor dem Eingang verstärkt diesen ersten Eindruck noch. Und ganz falsch ist solcherart Zuschreibung ja nicht: Die Informationen aus Bad Arolsen haben schon oft quälende Fragen beantworten und damit Wunden heilen können. So wie bei der Frau, die vom ISD über die schwere Lungenkrankheit und den baldigen Tod der ihr unbekannten Mutter erfahren hat - aufgrund dieser Nachricht konnte sie zum ersten Mal die Entscheidung der leiblichen Mutter, das Kind noch während des Krieges zur Adoption freizugeben, verstehen und ihr letztlich verzeihen.

Sterbeurkunde des Vaters

Auch Dietmar Stöfan bleibt nicht lange in Ungewissheit über seinen Vater. Einige Wochen nach der Anfrage seiner Tochter erhält er einen Brief vom Suchdienst des Roten Kreuzes, darin die Sterbeurkunde von Marcel Levèel: Er ist 1979 im Alter von 64 Jahren in Caen in der Normandie verstorben. Von weiteren Angehörigen hatte das französische Rote Kreuz nichts an ihre Schwesterorganisation in Österreich gemeldet. Dietmar Stöfan macht diese Antwort "glücklich und traurig zugleich"; er nimmt sich daraufhin jedenfalls vor, Französisch zu lernen und eine der nächsten Urlaubsreisen in die Normandie zu unternehmen, um dabei auch nach dem Grab seines Vaters zu suchen. Zuvor bemüht er sich aber darum, in seinem Kärntner Heimatdorf ein Foto von Marcel Levèel zu finden, damit er endlich selber die Aussage des alten Bauern und Freundes seines Vaters überprüfen kann: "Du bist eine Kopie von ihm!" An der großen Ähnlichkeit mit seinem Vater zweifelt Dietmar Stöfan aber ohnehin nicht mehr wirklich, nachdem seine Mutter einmal vor Schreck fast vom Stuhl fällt, als der Sohn mit einem Kapperl auf dem Kopf, den Schirm nach hinten, ins Zimmer tritt: "Jetzt hab' ich geglaubt, er kommt bei der Tür herein!" - "Wer er?" - "Dein Vater!" Doch kein Foto von Marcel Levèel lässt sich finden - nicht im Haus des ehemaligen Aufsehers im Zwangsarbeiterlager, nicht im Pfarrarchiv, nicht bei anderen österreichischen und französischen Stellen. Dietmar Stöfan wendet sich enttäuscht wieder an den Rot-Kreuz-Suchdienst.

849 verschiedene Abramowitsch

Um aus der Vielzahl an Informationen die für die jeweiligen Anfragen richtigen herausfiltern zu können, hat der ISD in Bad Arolsen eine spezielle, im Laufe der Jahre immer weiter verfeinerte alphabetisch-phonetische Ordnung zur Erfassung und Einteilung von Namen entwickelt. Wie nötig ein solches System ist, verdeutlichen nicht nur die 849 verschiedenen Varianten des Namen Abramowitsch (Abrahamowiesch, Abramamowitzova, Abrohanoviczowa …) oder die 156 unterschiedlichen Schreibweisen von Svartz (Shwarcz, Zvartsch, Scwartsch …); die Suche ebenfalls nicht leichter machen die vielen Verniedlichungsformen bei Vornamen, von denen Sascha für Alexander noch eine der gebräuchlichsten ist. Und nach 60 Jahren kann es schon vorkommen, dass die Erinnerungen an die Kriegszeit verblasst sind und ehemalige Zwangsarbeiter angeben, sie hätten in einem Kohleort "Magliaberg" schuften müssen, und damit Mönchengladbach meinen, oder "Riedersschaffen" statt Friedrichshafen angeben.

"Raten können wir nicht, wir müssen suchen und finden", sagt Rudolf Michalke, der Abteilungsleiter für die Kriegszeit-und Nachkriegszeitdokumente in Bad Arolsen. Seit gut 20 Jahren ist er beim ISD, hat die Sucharbeit von der Piecke auf gelernt; nicht ohne Stolz erzählt er, dass er bereits vor dem Mauerfall in Moskauer Archive geschickt wurde, um dort unter anderem die Totenbücher von Auschwitz zu kopieren - und wie es sich für ISD-Dimensionen gehört, waren das gleich "50.000 Blatt". In Bad Arolsen ist jede Zahlenangabe riesig: Alleine für die Abwicklung der Zwangsarbeiterentschädigungen bearbeitete der ISD innerhalb von zwei Jahren 950.000 Anfragen; 280.311 Antworten wiederum konnten im letzten Jahr verschickt werden, der Rückstand an unerledigten Anfragen beträgt aber immer noch rund 170.000, sollte aber mit Ende dieses Jahres abgearbeitet sein. Die Zeit drängt, hinter diesen Anfragen stehen ja Menschen, die sehr oft schon sehr alt sind und nicht mehr lange auf eine Antwort warten können.

Und wer keine Antwort bekommt?

Und wenn überhaupt keine Information zu dieser oder jener Person in Bad Arolsen aufzufinden ist, dann verstehen das die Betroffenen oft überhaupt nicht. Dann fällt auch schnell die eine oder andere Beschuldigung, sagt Maria Raabe, die ISD-Sprecherin: "Ihr habt uns damals verfolgt und eingesperrt", lautet der Vorwurf, "und jetzt haltet ihr die Beweise dafür zurück." Solche Vorwürfe schmerzen natürlich, gibt Raabe unumwunden zu, und sie entbehren jeder Grundlage: "Wir sind keine deutsche Behörde, auch wenn wir zur Gänze vom deutschen Innenministerium finanziert werden - und wir tun in jedem Fall unser Bestes, aber auch wir besitzen nicht alle Informationen." Ein großer Teil der Unterlagen ist noch vor der Evakuierung oder Befreiung der Lager vernichtet worden, anderes wurde durch Kriegseinwirkung zerstört. In einigen Fällen haben sogar befreite Häftlinge selbst vor lauter Freude die Dokumente des verhassten Regimes verbrannt. Andere Akten wiederum wurden von alliierten Truppen mitgenommen und schlummern noch immer irgendwo in fremden Archiven.

Jede Laus zählt als Beweis

Der ISD sammelt nach wie vor neues Material (2006: rund 53 Laufmeter) in Meldeämtern, Archiven, Firmen usw.; nur dadurch gelingt es trotz zunehmenden Abstandes zu den Ereignissen und immer ungenauer werdender Angaben der immer älter werdenden Antragsteller etwas mehr als jede zweite Anfrage positiv zu beantworten. Dabei hilft vor allem aber die deutsche Gründlichkeit, die selbst die Buchführung in den Konzentrationslagern bestimmte - bis zum letzten Tag: So vermeldet die Standeskontrolle im KZ-Buchenwald am 10. April 1945, einen Tag vor der Befreiung durch die Alliierten, drei Neuzugänge und 15 Tote. Für Menschen, die heute ihren Anspruch auf Entschädigungszahlungen geltend machen wollen, können solche Einträge die entscheidenden Beweise sein; genauso wie man über penibel geführte Läusekontroll-Listen den Kopf schütteln kann oder bloß nur mehr erschüttert ist - für Herrn A. Antonow aus Block 3 im Konzentrationslager Großrosen kann die im Winter 1943 in seinen Haaren gefundene und registrierte Laus heute bedeuten, dass ihm eine Rente zugesprochen wird.

Abteilungsleiter Rudolf Michalke hat einmal selbst bei seinem Arbeitsgeber ISD nach Informationen über den eigenen Großvater angefragt. Dieser war wegen Hochlandesverrates angeklagt, verurteilt und als Strafe einem Bombenentschärfungsdienst zugeteilt worden. Doch der Großvater überlebte und anhand der ISD-Auskünfte konnte Michalke sein Schicksal über all diese bewegten Jahre hindurch rekonstruieren. "Mein Ahnenbaum ist fertig", sagt er, "ich hab' unseren Faden gefunden."

Die Liebe für Fisch in den Genen

So wie Dietmar Stöfan an einen Faden anknüpfen konnte, von dem er die meiste Zeit seines Lebens gar nicht gewusst hat, dass er existiert. Eines Tages erhält Stöfan einen eingeschriebenen Brief vom Österreichischen Roten Kreuz: "Meine Knie wurden auf einmal sehr weich. Mit zitternden Händen und klopfendem Herzen öffnete ich das Schreiben, darin drei Fotos von meinem Vater aus seiner Zeit in Kärnten." Gänzlich sprachlos war Stöfan aber, als er im Begleitschreiben die Adressen seiner Schwester Liliane und seines Bruders Jean-Yves fand. Den ersten Telefonanruf bei der Schwester machte Stöfan noch mit dem Wörterbuch auf dem Schoß; doch weder Sprachschwierigkeiten noch das lange Nichtwissen voneinander konnten den Anfang einer großen Geschwisterliebe stören: "Wir sind jetzt eine Familie", sagt Stöfan und seit er die Heimat seines Vaters besucht hat, die berühmt ist für ihre Austern und Krabben und Hummer, weiß er, warum er schon als Kärntner Bub immer furchtbar gern einen Rollmops gegessen hat.

Weitere Informationen: www.its-arolsen.org

Buchtipp:

VERMISST & GEFUNDEN

Ein Schicksal - viele Geschichten

Hg. von Johanna Goldmann und Johannes Guger

A&M/Weltbild Verlag, Salzburg 2006

148 Seiten, geb., € 9,95

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