Journalismus - © Foto: Pixabay

Algorithmen: Journalismus ganz ohne Journalisten

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So rasch sich aus Datensätzen ein Bild der sozialen Verhältnisse erzeugen lässt, so wenig ist Software in der Lage, den Betroffenen eine Stimme zu verleihen. Über das Phänomen des Roboterjournalismus.

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So rasch sich aus Datensätzen ein Bild der sozialen Verhältnisse erzeugen lässt, so wenig ist Software in der Lage, den Betroffenen eine Stimme zu verleihen. Über das Phänomen des Roboterjournalismus.

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Auf dem Friedhof der österreichischen Lokalzeitungen drängen sich die Grabsteine. Dort stehen einst bekannte Namen: Jener der Südost-Tagespost in Graz (+1987) etwa, des Gratisblättchens Oberösterreichs Neue (+2009) oder der Kärntner Tageszeitung (+2014). Auch ohne nostalgisch verklärten Blick muss gesagt werden, dass immer weniger lokale Journalisten im Einsatz sind. Das gilt nicht nur für Österreich, sondern für viele Länder Europas. Wie erleben eine große Krise der Medien, die besonders die Kleinen hart trifft.

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In die Lücke stößt die Automatisierung vor. Roboterjournalismus heißt das Zauberwort, gemeint ist damit die automatische Erzeugung von Texten. Das mag wie Science Fiction klingen, ist aber bereits Realität. An der Speerspitze dieser Entwicklung stehen Nachrichtenagenturen; Textfabriken, wie es sie in fast jedem Land gibt. Die Agenturen produzieren hunderte, manchmal tausende Artikel am Tag und beliefern damit Printund Online-Medien in Europa. Software hilft ihnen dabei, mehr Texte schneller zu produzieren und die Lücken der Lokalberichterstattung zu füllen.

Roboter en marche

Mit der Automatisierung erlernt das Handwerk des Journalismus die Massenproduktion. Doch die Entwicklung wirft die Frage auf, ob das, was Roboter schreiben, überhaupt noch Journalismus ist - und was das für eine Gesellschaft bedeutet, die süchtig nach schnellen Nachrichten ist.

Die meisten Roboter schreiben bisher Sport- und Finanznachrichten. Den ersten großen Schritt machte die Weltnachrichtenagentur Associated Press. Seit 2015 produziert AP Texte über die Quartalsergebnisse börsennotierter Unternehmen in den USA automatisch, rund 12.000 Texte im Jahr. Seither springen immer mehr Medienunternehmen auf den Zug auf.

So rasch sich aus Datensätzen ein Bild der sozialen Verhältnisse erzeugen lässt, so wenig ist Software in der Lage, den Betroffenen eine Stimme zu verleihen.

Kleinere Agenturen nützen ähnliche Technologie, um darbende Lokalzeitungen mit Artikeln über örtliche Ereignisse zu beliefern, die sie selbst nicht covern können. Die norwegische Nachrichtenagentur NTB setzt etwa Software ein, die aus Ergebnistabellen der Fußballliga kurze Spielberichte strickt. Damit kann die Agentur über praktisch jedes Vereinsspiel in Norwegen berichten, von der höchsten bis zur untersten Liga, 20.000 Spiele im Jahr.

Die Berichte selbst lesen sich trocken und eher unspannend. "Team Y siegt gegen Y vier zu null. Es ist der 3. Auswärtssieg in Folge..." Zitate und anschauliche Beschreibungen von spektakulären Toren oder Fouls fehlen. Für die Lokalmedien geht die Rechnung dennoch auf: Ihre Leser können zumindest einen kurzen Abriss über ein Ereignis vor der eigenen Haustüre lesen, praktisch ohne Extra-Kosten für die Medien.

Im deutschen Sprachraum gibt es bisher eher zaghafte Ansätze, etwa in Deutschland mit dem Feinstaubradar der Stuttgarter Zeitung. Weitere Medien wollen aber nachziehen.

Einen wagemutigen Vorstoß zur Automatisierung startete die britische Press Association (PA). Mit 700.000 Euro von Google und der Hilfe eines Start-ups bauen Journalisten der Nachrichtenagentur seit einigen Monaten gefinkelte Vorlagen, die aus statistischen Datensätzen für jede Region, ja jede Postleitzahl in Großbritannien eigene Texte schreiben. Die Themen sind breit gefächert: Geburtenraten, Armut oder kommunale Verwaltung. Die Geschichten gießen trockene Zahlen in Worte und produzieren Artikel samt Schlagzeilen, etwa: "Nahezu eines von drei Kindern in Lewisham ist dickleibig, enthüllen Daten."

Blinde Flecken

Die Roboterjournalisten stoßen damit in ein Kerngebiet des politischen Journalismus vor: die Berichterstattung über soziale Probleme. Seit Dezember 2017 liefert PA Texte aus und produziert damit dicke Schlagzeilen - und Reaktionen. Nach einem Roboterartikel über lange Wartezeiten in einem Krankenhaus im südenglischen Bath - die Daten dazu kamen aus einem trockenen, ungelesenen Regierungsbericht - musste sich der Betreiber entschuldigen. Der Bath Chronicle hob die Entschuldigung auf die Titelseite.

Exklusive Geschichten aus Softwarehand schaffen politische Realitäten. Aus der Sicht der Medien ist das positiv: Die Technik erlaube Berichte über Fakten, über die sonst kein Mensch geschrieben hätte. "Es ist eine fantastische Übung in Demokratie", sagt PA-Chefredakteur Pete Clifton.

Die Robotertexte vervielfältigen allerdings auch die Vorurteile und blinden Flecken ihrer menschlichen Herren. In einer Story der Lokalzeitung Express and Star lautet der Titel: "Die Hälfte aller frischgebackenen Mütter in Wolverhampton sind unverheiratet". Der Bericht vermeldet, dass im Ort bei 56,5 Prozent der Kinder in dem Ort die Eltern weder verheiratet noch verpartnert sind. Später wird hingegen berichtet, immerhin 77 Prozent der Kindern würden in Haushalte mit zwei Elternteilen hineingeboren. Es ist also eine Frage der Anschauungsweise: Geht man nach Familienstand oder tatsächlicher Lebenssituation?

Das Beispiel zeigt, dass auch automatisierte Texte notwendigerweise einen Standpunkt beziehen müssen. Die reine Objektivität ist unmöglich, ergo auch nicht programmierbar. Im gegebenen Fall lieferte die Software eine eher traditionelle Sichtweise.

Noch schwieriger wird es, wenn sich die Verhältnisse nicht in den Daten abbilden lassen. Beim Roboterjournalismus wird dieselbe Vorlage für hunderte, ja tausende Texte genützt. Das ergibt eine holzschnittartige Darstellung, die keine Rücksicht auf lokale Eigenheiten nehmen kann. Ein automatisiert erstellter Text über Arbeitslosigkeit in Eisenerz etwa mag erfassen, dass die Arbeitslosigkeit dort auf einem historischen Höchststand ist. Aber die Gründe dafür oder gar den Anblick der verlassenen Minen vermag er nicht zu ermessen.

Grosso modo löst die Automatisierung auf technische Art das soziale Problem, dass wir uns als Gesellschaft den Journalismus nicht mehr so recht leisten wollen. Das passt in den Trend der Zeit: In Europa und den USA wächst die Angst vor Desinformation und Hass im Internet, vor Fake News und Troll-Armeen. Die Antwort der Technologiekonzerne ist es, unerwünschte Inhalte automatisiert auszufiltern. Facebook gab etwa kürzlich bekannt, binnen drei Monaten mehr als 860 Millionen Posts mit der Hilfe von Algorithmen gelöscht zu haben, die Pornografie, Hass oder Spam enthielten. Soziale Fragen werden technisiert, die Auseinandersetzung mit Texten durch neue technologische Mittel automatisiert.

Kollektive Seelsorge

Der Journalismus zieht dort nach, wo die Technologiefirmen bereits vorangegangen sind: Automatisierte Artikel erobern nun die Lokalberichterstattung - zunächst bei Sport und statistischen Daten, aber in Zukunft wohl auch in vielen anderen Bereichen. Robotertexte besetzen Räume, die von menschlichen Reportern immer seltener betreten werden.

Der Journalismus verliert damit eine bedeutende soziale Funktion: Den Dialog mit der Gemeinde, seinen Auftrag zur kollektiven Seelsorge. Denn so rasch sich aus Datensätzen ein Bild der sozialen Verhältnisse erzeugen lässt, so wenig ist Software in der Lage, den Betroffenen tatsächlich eine Stimme zu verleihen. Dazu fehlt Maschinen das Augenmaß.

Automatisierung im Journalismus sollte nicht verteufelt werden. Allerdings dürfen die schnell generierten Texte nicht mehr als einen Startpunkt für die Beschäftigung mit einem Thema bieten. Die Algorithmisierung der sozialen Zusammenhänge enthebt uns nicht aus der Verantwortung, gemeinsam Narrative über unsere Gesellschaft zu schaffen. Technologie muss immer Werkzeug bleiben, darf kein Selbstzweck werden.

Der Autor ist Journalist bei netzpolitik.org in Berlin.

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