Alibi- und Powerfrau

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Jüdisches Schicksal, gebrochen durch Ironie = Vladimir Vertlib.

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Jüdisches Schicksal, gebrochen durch Ironie = Vladimir Vertlib.

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Rosa Masur ist eine starke Frau. Auch heute noch. Sie hat viel erfahren in ihrem langen Leben. Und viel gelitten. Ihre Erinnerungen sind untrennbar mit der Geschichte der Juden in Russland verknüpft, Oral History des 20. Jahrhunderts. Rosa Masur hat die Pogrome während des Bürgerkrieges überlebt, die Aufbauphase des Kommunismus, die Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg, den Stalinismus und die Jahrzehnte danach. Sie erlebte den Zerfall der Sowjetunion und landet nun, nach all den Aufregungen und Höhen und Tiefen, in einer deutschen Kleinstadt: in Gigricht nahe dem Kloster Patsch. In Gigritz-Patschen also, wie man so schön sagt. Dem russisch-österreichischen Autor Vladimir Vertlib ist mit "Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur" ein in vieler Hinsicht beachtenswerter Roman gelungen. Er hat mit seiner Protagonistin nicht nur einen Katalysator geschaffen, um Geschichte literarisch aufzubereiten, sondern ebenso eine Figur, die Eigenleben entwickelt und dieses auch durchgehend behaupten kann.

Rosa Masur ist Großmutter und Power-Frau, Romanfigur und Emigrantin, die als über 90-Jährige aus ihrem Schicksal ein spätes Kapital schlagen kann, denn sie soll nun für ein "Jubiläumsbuch" der Gemeinde Gigricht über ihr Leben berichten. Diese Rahmenhandlung verbindet Rosas Erinnerungen mit dem meist beschaulichen Leben in einem deutschen Nest, das sie ironisch kommentiert: "Es ist schon ein großes Glück, dass die Deutschen ein so schlechtes Gewissen haben, dass sie uns wie die Schweine hingeschlachtet haben. Deshalb dürfen jetzt einige von uns nach Deutschland übersiedeln. So haben die Deutschen wieder ihre Juden und wir ein schöneres Leben."

Gigricht wird gerade durch seine Provinzialität zu einem Symbol für Deutschland (und Österreich), das mit Buchprojekten und ähnlichen Aktivitäten an seiner Vergangenheitsbewältigung laboriert, während eine Reihe von Flüchtlingen an bürokratischen Hürden neueren Datums scheitert. Nicht alle haben das zweifelhafte Glück, auf einer Wiedergutmachungsliste des öffentlichen Bewusstseins zu landen und damit für "Jubiläumsbücher" so interessant zu werden wie Rosa Masur, für die sich dadurch ungeahnte Möglichkeiten auftun. Und sie hat tatsächlich ein besonderes Gedächtnis. Einerseits erinnert sie sich noch an Details aus Jahrzehnte alten Briefen ihrer Schwester, andererseits ist dem Leser nicht immer ganz klar, ob sie flunkert oder nicht. Für einen Tagessatz von 50 Mark ist sie schon bereit, so ausführlich wie möglich zu berichten und ihre Zuhörer ein wenig hinzuhalten bis zu der Geschichte aus den fünfziger Jahren, mit der sie die Projektleiter geködert hat, ein gewisses Erlebnis mit dem Genossen Stalin. Aber auch ihre Schilderungen vom alten Schtetl in Weißrussland, von verrückten Lehrern, "Luftmenschen" oder dem nicht weniger verrückten und schwierigen Leben unter kommunistischer Herrschaft kommen äußerst gut an und lassen sie die Tatsache weidlich ausnützen, dass es offenbar nichts gibt, "was die Deutschen heutzutage besser beherrschen als zerknirscht und betroffen zu sein." In Gigritz-Patschen trifft Rosa Masur auch andere "Kontingentsflüchtlinge" aus Russland. Die Clubräumlichkeiten der Synagoge fungieren als erweitertes Wohnzimmer, Kaffeehausersatz, als Treffpunkt, selbst der Rabbiner hat es schon aufgegeben, die Aus- bzw. Einwanderer bekehren zu wollen. Hier wird Rosas Geschichte mit der ihrer Schicksalsgenossen verknüpft und die Vergangenheit mit dem Emigrantenalltag. Es wird sinniert und Schach gespielt, über eine "Lebenserschwerniszulage" für Juden und über deutsche Amtswege gewitzelt.

Die Rosenschwants', Masurs, Badajews oder Schwarz' tauschen ihre Erfahrungen aus, meist abgeklärt und anekdotisch. Aber hin und wieder werden alte Ängste wach, zu viel haben manche erlebt, als dass sie ihr nun endlich friedliches Leben restlos genießen könnten. Bei der achtzigjährigen Chawa Rapoport etwa hat ein Ghettoausweis Verfolgungswahn ausgelöst. Dabei ist der Ausweis nur eine gekonnte Fälschung, der ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volk beweisen sollte. Bei den Deutschen hat eben alles seine Ordnung. Sie "lieben zwar heute die Juden, zumindest solange die Juden sich nicht so jüdisch benehmen wie sie glauben, dass sich Juden benehmen könnten, aber nicht sollten."

Aber eben nur, wenn die Dokumente stimmen. Solche sind glücklicherweise im postkommunistischen Russland nicht schwer zu beschaffen: "Alles eine Frage des Preises. Das ist freie Markwirtschaft. Darauf haben wir doch siebzig Jahre lang gewartet. Dass man endlich alles kaufen kann, was man braucht." Die dem Autor eigene Ironie durchzieht den ganzen Roman. Vladimir Vertlib beherrscht die Kunst der Gratwanderung. Realität und Fiktion liegen sehr nahe beieinander in seinen Texten, und die Gegenwart wird weitgehend als kausale Folge der Geschichte begreifbar.

Die Figuren lassen keinen Zweifel daran, dass sie ohnehin nur die "übliche Schonvariante" erzählen, der Autor schont seine Leser damit aber keineswegs. Ja, er lässt ihnen nicht einmal ihre Betroffenheit, die von Rosa Masur als weniger ehrlich denn "politisch korrekt" entlarvt wird. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Oder doch nicht? Vor unseren Augen zerfällt Geschichte in Geschichten. Das Grauen ist nicht erzählbar. Und selbst die drastischsten und traurigsten Passagen des Buches würzt der Autor mitunter mit skurrilen Einfällen. Vladimir Vertlib stammt selbst aus einer russisch-jüdischen Familie. 1966 in Leningrad, heute wieder Sankt Petersburg, geboren, emigrierte er früh mit seinen Eltern nach Israel, später nach Österreich und lebt in Salzburg. Seine Romane wirken durch Einfühlungsvermögen und von der Authentizität eigener Erfahrung. Über Rosa Masur werden wir noch lang nachdenken.

Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur Roman von Vladimir Vertlib Deuticke Verlag, Wien 2001 430 Seiten, geb., öS 328,-/e 22,90

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