Alle Jahre wieder: das große Lesefest

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Der Preis der Leipziger Buchmesse wird alljährlich in drei Kategorien verliehen: Belletristik, Sachbuch/Essayistik, Übersetzung. Ein Blick in die fünf nominierten Belletristik-Titel.

Die Leipziger Buchmesse gilt als die sympathischere der beiden großen deutschen Buchmessen. Sie ist kleiner und „überschaubarer“ und der Slogan „Leipzig liest“ für alle erlebbar, die das Glück haben, vor Ort sein zu dürfen. Ein Viertel der Fläche des Messegeländes widmet sich der Literatur für junge Leserinnen und Leser und jedes Jahr strömen verkleidete Kinder und Jugendliche durchs Messegelände und durch die Stadt. Diese Buchmesse ist nicht bloß eine Bühne für die auf blauen und andersfärbigen Sofas sitzenden „Großen“, auch wenn heuer wieder Martin Walser (mit seinen Tagebüchern) und Günter Grass (mit seiner Stasi-Akte) dort Platz nehmen werden. Die Messe gehört auch der südosteuropäischen Literatur, den kleineren Verlagen, der Literaturvermittlung und vielem mehr.

Auch der Preis der Leipziger Buchmesse, der traditionellerweise am Donnerstagnachmittag verliehen wird, unterscheidet sich vom Deutschen Buchpreis, der den Buchmarkt ankurbeln soll, bisher aber keine besonderen literarischen Qualitätsansprüche sichtbar gemacht hat. Der Leipziger Preis verschafft auch dem Sachbuch und vor allem der Leistung der Übersetzer Aufmerksamkeit, jenen „Mitautoren“, ohne die das Wissen um andere Literaturen und Kulturen so viel ärmer wäre.

Buntes Feld Literatur

Für die fünf Bücher der Kategorie Belletristik, die von den Juroren heuer für die Shortlist nominiert wurden, lassen sich bloß folgende gemeinsame Nenner festhalten: Prosa, deutschsprachig, in den letzten Monaten erschienen, aus bekannten großen Verlagshäusern. Viel mehr Gemeinsames fällt zunächst nicht auf. Die Buchauswahl ergibt damit vielleicht eine Art Sinnbild für die gegenwärtige deutschsprachige Literatur, deren Feld wohl bunter bestellt ist, als uns jene weismachen wollen, die Trends suchen (und sie gleich selbst kreieren). Andererseits gibt es keinen Anlass zu besonderem Jubel. Denn so herausragend, dass man umherlaufen und rufen möchte: „Das musst du unbedingt lesen, unbedingt!“, ist keiner der Titel.

Lutz Seilers Erzählungen „Die Zeitwaage“ (Suhrkamp) sind, weil bereits im Herbst 2009 erschienen, in Feuilletonzeitrechnung geradezu alt. „Turksib“, jener Text, mit dem Seiler 2007 den Bachmannpreis erhielt, kam auch in diesen Band mit „meisterhaften“ Erzählungen „von einer einzigartigen Traurigkeit“. So beschrieb sie Jens Jessen in der Zeit. „Mehr als zwei von ihnen hintereinander zu lesen, ohne in einen Abgrund von Schwermut und tränennaher Verzweiflung auch über das eigene verpfuschte Dasein zu versinken, ist nahezu unmöglich.“ Jessens nicht ernst gemeinten Satz „Es gibt seelsorgerische Gründe genug, von der Lektüre dieses Buches abzuraten“, hätte man vielleicht eher zum Roman „Axolotl Roadkill“ (Ullstein) von Helene Hegemann erwartet. Mit diesem landauf, landab mittlerweile genug beworbenen Buch fährt die Autorin ja, wie Heidi Lexe im letzten booklet der Furche schrieb, ihren Lesern „mit dem Stellwagen ihrer Fäkalsprache ins Gesicht“. Doch haben vermeintlich seelsorgerische Gründe in der Argumentation über Literatur ohnehin nicht viel zu suchen, weswegen ja auch Jessen Seilers Erzählungen überzeugt anpreisen kann.

Angelika Overath meinte in den NZZ über „Gavroche“, eine der Erzählungen Seilers, sie „könnte getrost in eine Sammlung der schönsten Liebesgeschichten seit der Antike aufgenommen werden“. In eine solche Sammlung würde wohl jene Geschichte, die Anne Weber in ihrem Roman „Luft und Liebe“ (S. Fischer) erzählt, keinen Eingang finden: weder die erste weggeworfene noch die zweite von der Erzählerin geschriebene und also zu lesende Geschichte. In dieser Fassung erlaubt sich die Erzählerin, nicht nur in der dritten Person über die Märchenprinzessin zu schreiben, sondern auch als Ich. Zu reflektieren, wie man eine selbsterlebte Geschichte am besten erzählt, und eine Romanfigur in Konfrontation mit der Autorenfigur zu bringen: Das sind nette, unter anderem von französischen Autoren bekannte Ideen. Nebenbei könnte man an poetische Fragen wie jene der Authentizität und des Kitsches rühren. Dieses metafiktionale Spiel, wie Germanisten eine solche Art, über das Erzählen zu erzählen, nennen, wirkt allerdings in diesem Fall über weite Strecken eher papieren denn überzeugend oder gar spannend.

„So viel Beinstumpf und Prothese, so viel Stottern und Kriegsblindheit, so viel juckende Narben gab es schon lange nicht mehr in einem Kindheitsroman – so viel Verzerrungs- und Verwandlungskunst auch nicht“, bescheinigte Jutta Person in der taz dem „Roman unserer Kindheit“ von Georg Klein (Rowohlt). Regentage und Sonnentage wechseln sich zunächst ab in diesem „Kinderbandenroman“, der bis in Details ins Deutschland der Zeit von Kleins Kindheit zurückführt. „Mein Haus ist ohne Fenster“: Wer da erzählt vom Älteren Bruder und den Witzigen Zwillingen, der Schicken Sybille und dem Ami-Michi, dem Mann ohne Gesicht und dem Gierer, bleibt lange Geheimnis. Die Andeutungen nehmen zu: „Ich bin nicht viel. Aber ich bin nicht nichts.“ Kleins manierierter Stil will aber nicht so recht zu seiner Erzählerfigur passen.

Voten ohne Lektüre

Mit der Kindheit zugleich die Geschichte seiner Stadt erzählt Jan Faktor, allerdings völlig anders, nämlich frech und respektlos, wie der Titel richtig vermuten lässt. Auf über 630 Seiten enthüllt der Ich-Erzähler in „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“ (Kiepenheuer & Witsch) sein vor allem sexuelles Erwachsenwerden, verknüpft mit der politischen und sozialen Geschichte Prags: der Nachkriegssituation der Shoah-Überlebenden, dem Einmarsch der russischen Truppen, der Lage der Intellektuellen ...

Leipzig bewegt Leser, warum nicht auch online. Auf der Webseite der Leipziger Buchmesse wurden Leserinnen und Leser nach ihrem Favoriten gefragt. Das Publikum entschied sich, so las man in den letzten Tagen, gegen Hegemann und für Seiler. Erwähnenswert ist allerdings, dass von den fünf Büchern eines erst heute, am 18. März, erscheint. Von Jan Faktors Roman stellte man drei Absätze Text und eine Hörprobe ins Netz, das soll offensichtlich für die Favoritenwahl genügen. So erhielt ein Roman, der noch nirgendwo zur Lektüre erhältlich war, 9,97 Prozent der Nichtleser-Stimmen.

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