"Allein bist du nicht schön!"

Werbung
Werbung
Werbung

Alljährlich vor Weihnachten wird dazu aufgerufen, für die "armen Kinder der Welt" zu spenden. Wer hat schon eine Ahnung davon, wie diese Kinder wirklich leben? Die furche hat sich in Dörfern der afrikanischen Länder Mali und Äthiopien umgesehen und bei den bitterarmen kleinen Bewohnern der staubig-heißen Savannen erstaunliche Erfahrungen gesammelt.

Wer von der alten westafrikanischen Königstadt Segou in Richtung Djenné fährt, wo die Archäologen die Reste der vielleicht ältesten Stadt südlich der Sahara freigelegt haben, muss mit viel Staub und extremer Trockenheit rechnen. Wie ein schmales Band zieht sich die geteerte Straße durch die unendlich weite, wunderschöne Savannenlandschaft. Wie können Menschen hier überhaupt existieren, weit weg von der nächsten Siedlung oder größeren Stadt? Doch da und dort zeigen sich Gruppen von Ziegen oder Buckelrindern, und hin und wieder tauchen Dörfer auf. Manchmal nahe, manchmal weiter entfernt von der Straße. Menschen sind in der brütenden Mittagshitze jedoch kaum zu sehen. Bei einem kurzen Halt - es ist bereits Ende Oktober, der erste Monat der fast neunmonatigen Trockenzeit - wecken einige der mit Ästen und Stroh gedeckten Lehmhütten das Interesse. Da - es ist doch dörfliches Leben zu entdecken! Eine ältere Frau, nur mit einem Lendentuch bekleidet, stampft Hirse nach traditioneller Art. Ein kleiner Bub, halbnackt und barfuß, steht neben ihr und spielt mit Steinen.

Merkwürdig. Sonst sind immer mehrere Frauen zusammen zu sehen, die gemeinsam arbeiten, fast immer von einer großen Kindernschar umgeben. Als der Kleine uns bemerkt, beginnt er entsetzt zu schreien, seine Hände umklammern mit aller Kraft die Beine der Frau. Panisch sucht er bei ihr Schutz vor den unbekannten Eindringlingen.

Mali ist ein Land der Dörfer, und wie die meisten anderen Dorfkinder lebt auch dieser Bub trotz der Nähe zur Straße in einer völlig abgeschlossenen Welt. Die helle Hautfarbe einer europäischen Besucherin, ihre merkwürdige Kleidung - das Fremde überhaupt - kann einem dreijährigen Afrikaner noch richtig Angst machen. Aber dann verdrängt die kindliche Neugier mit einem Schlag die Panik, und er nimmt mit einem erfreuten und vergnügten Lächeln entgegen, was für ihn in einiger Entfernung auf dem Boden ausgebreitet wird und was alle Kinder Malis kennen: "Bonbons!" Der Bub empfindet die Süßigkeiten instinktiv so, wie sie gemeint sind: als eine kleine, freundliche Gabe zur Begrüßung. Eine Geste des Respektes vor einem kleinen Bewohner dieses Dorfes.

Das Geben und Nehmen von Geschenken ist sehr wichtig, nicht nur in Mali. So wie ein Gast überall in den afrikanischen Stammesgesellschaften positive Rechte wie Schutz und sogar Fürsorge eingeräumt bekommt, wird eine "Gabe" immer als symbolische Öffnung zum anderen Menschen, zur anderen Sippe oder zum anderen Stamm verstanden. Die traditionellen Geschenke des ankommenden Gastes an das Dorf und seine Vertreter wie Salz, Hirse oder Kolanüsse sind der Beginn einer jeden friedlichen Beziehung.

Und auf einmal - man traut seinen Augen und Ohren kaum, sind sie auch da, die anderen Kinder des Dorfes, von denen noch kurz zuvor weder etwas zu sehen noch zu hören war.

Wie überall in Mali, das mit seinen zehn Millionen Einwohnern zu den ärmsten Ländern der Welt zählt, ist es ein Erlebnis, Kindern zu begegnen. Sie gewinnen einen sofort mit ihrer Natürlichkeit, ihrer charmanten Herzlichkeit und einem ausgeprägten Sinn für Späße. Man braucht aber gar nicht erst genauer hinzuschauen, um die Unterernährung der oft nur mit Flicken bekleideten Kinder zu sehen, die geschwollenen Bäuchlein, die triefenden Nasen und Hautausschläge. Wo nehmen sie nur, inmitten bitterer Armut, diese ungeheure Vitalität, Unbeschwertheit und Lebensfreude her?

Die Antwort darauf ist immer dieselbe: trotz der oft lebensbedrohenden Umweltbedingungen bekommen die meisten Kinder Afrikas etwas ganz Entscheidendes vermittelt - das Gefühl von sozialer Sicherheit und Geborgenheit. Sie sind im Alltagsleben zwar strengen Regeln und Verhaltensnormen unterworfen, trotzdem fühlen sie sich in der Gemeinschaft des Dorflebens völlig bejaht und aufgehoben. Es ist immer jemand für sie da: die Nachbarskinder, die Verwandten, die Sippe.

Zum Stolz der Frauen gehört es, Kinder zu haben. Dahinter steht nicht nur der Wunsch nach einer gesicherten "Altersversorgung". Es ist auch der tiefe Wunsch der afrikanischen Sippen in den Dörfern nach Kontinuität. Die traditionellen Lebens- und Glaubensvorstellungen der Bevölkerung (90 Prozent Muslime, zwei Prozent Christen) drehen sich immer noch um Fruchtbarkeit, Kinder und Ahnen. Viele sind tief von der unsichtbaren Präsenz ihrer Verstorbenen überzeugt, auch im Alltag.

Das familiäre Leben auf engstem Raum und unter primitiven Bedingungen, Hütte an Hütte, funktioniert nach bestimmten Vorgaben, Ordnungen und deutlichen Regeln - an die die Kinder mitunter auch mit Strenge und Härte gewöhnt werden. Die Bereitschaft der Heranwachsenden, die Anordnungen der Älteren ohne lange Erklärungen zu befolgen, ist entsprechend hoch, wie man immer wieder beobachten kann.

Die Kinder hier bekommen trotz der - besonders für Frauen - harten Arbeitsbedingungen eine intensive Zuwendung. Dennoch "gehört" ein Kind seinen Eltern nie allein. Es ist kein individuelles, stolz vorgeführtes Kleinod wie hier in Europa, sondern immer auch ein Mitglied einer Sippe. "Kelen, ma man nyi i kelen na" ("Allein bist du nicht schön"). Diese Weisheit der Bambara, der größten Ethnie Malis, wird von klein auf gelebt. Die absolute Betonung der Individualität und des kindlichen "Ich" ist hier fremd, die Kinder werden einfach in eine bestehenden Gemeinschaften, in ein "Wir", eingliedert. Je älter sie werden, desto verflochtener sind sie mit ihrer Mitwelt, und - als umso "schöner" gelten sie.Der Schönheitsgewinn erfolgt so durch die stete Erweiterung der Familie.

Es ist schwer, sich als Reisende aus einer ganz anderen Gesellschaft zu vergegenwärtigen, dass wir alle in derselben Welt und in derselben Zeit leben. Wir im Westen preschen in unserem Globalisierungswahn derzeit immer schneller und gnadenloser voran. Hier wird hingegen gelebt und gearbeitet wie seit ewigen Zeiten. Hat Afrika überhaupt noch eine Chance, an die hochtechnisierten Länder des Nordens auch nur ansatzweise aufzuschließen? Oder wird der Kontinent völlig zurückgelassen werden?

Der Journalist Ryszard Kapuscinski, Autor zahlreicher Reportagen aus den Entwicklungsländern, wurde einmal gefragt: Was geschieht, wenn die Welt der afrikanischen Dörfer auf die Welt des amerikanischen Computermilliardärs Bill Gates trifft? Kapuscinski entgegnete nur trocken, es sei die eigentliche Tragödie, dass diese Welten eben nie aufeinander treffen ...

Der Hunger nach Wissen bei den Kindern ist spürbar. Doch viele Dorfkinder gehen überhaupt nicht zur Schule, weil die Entfernung in den nächsten Ort zu groß ist oder die Eltern es nicht erlauben. Zeitweise kommen Lehrer in die Dörfer, aber rund zwei Drittel der Menschen sind immer noch Analphabeten. Beim Notieren der Wünsche einer größeren Gästegruppe in den Restaurants oder dem Addieren der Preise zeigen sich gnadenlos die Lücken beim Rechnen und Schreiben.

Die ewigen Verlierer

Was wohl aus dem kleinen Buben werden wird, den der Anblick der Weißen so sehr in Panik versetzt hat? Vielleicht wird er als Halbwüchsiger in die Hauptstadt Bamako gehen, wenigstens in der Trockenzeit. Dort findet er Gelegenheitsarbeiten, oder er bekommt Zugang zu Hilfsgütern aus der reichen Welt. Wenn die Ernte schlecht ist, oder die Hirsereserven des Dorfes verbraucht sind, lassen die Chefs der Clans und Sippen die jungen Burschen eher ziehen. Doch sie wissen, dass die wertvollen Arbeitskräfte für die mühsame Feldarbeit vielleicht für immer verloren sind.

Kann sein, dass man dem Jungen aus dem Dorf auch auf einem der Märkte in Bamako begegnet. Alle möglichen Halbwüchsigen sind dort als Kleinstverkäufer von dem unterwegs, was sie gerade mit sich herumtragen: Lederwaren, Zigaretten, Erdnüsse, Plastiksäckchen...

Einmal mehr bliebe dann nur die Frage, warum die Menschen Afrikas mit ihrem Reichtum an Fähigkeiten und Potentialen immer nur auf der Verliererstraße stehen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung