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Kommende Woche beginnt die neue Theatersaison. Wie jedes Jahr hat die furche die Spielpläne kritisch gesichtet und sagt, wo die Theater-Höhepunkte zu erwarten sind. Diesmal im Mittelpunkt: das Tanztheater. Weiters finden Sie auf den folgenden Seiten einen speziellen Blick auf Salzburg, wo nach 18 Jahren der Ära von Lutz Hochstraate eine neue Intendanz antritt, sowie ein Porträt des Wiener Theaters "Gruppe 80", das 25 Jahre alt wird und nach 20 Jahren einem Intendantenwechsel entgegensieht. Redaktion: Cornelius Hell Das internationale Tanztheater und sein Niederschlag in Österreich: das Festival "ImpulsTanz" und das Tanzquartier Wien.

Ein klein gewachsener, im Rücken verwachsener, buckliger Mann durchschreitet im schlicht gehaltenen, schwarzen Kasakenhemd das spärlich beleuchtete Bühnenrund. Einem zornigen Kobold gleich, beginnt er loszubrüllen: "Ich brauche diese starken, schreienden Frauen von Pina Bausch nicht mehr!" Irrer Blick, grässlich verzerrter Mund: "Tanztheater Wuppertal, zwanzig Jahre liegt das zurück. Ich bin diese starken, schreienden Frauen auf der Bühne leid. Ich tue, was ich will. Und ich mache es zusammen mit Lorenzo de Brabandere. Zwanzig Jahre alt, ein guter Fußballer."

Zentralfigur Raimund Hoghe

Diese kühne Szene stammt aus dem jüngsten Opus des Wuppertalers Raimund Hoghe Tanzgeschichten und war jüngst bei "ImPulsTanz" in Wien zu sehen. Hoghe, der einsam agierende, auratische Biograf einer Epoche, in seinem Fall der (Mentalitäts-)Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, war 1980- 90 Dramaturg des Tanztheaters Wuppertal unter der Leitung der nun lauthals verfemten "Mutter Courage" des Tanztheaters, des Weltstars Pina Bausch.

Hoghe, einer der Proponenten dieser in den 1960er und 70er Jahren aufsehenerregend neuen und skandalträchtigen, mittlerweile nicht mehr ganz so neuen Kunstform, verstand sein Tanztheater explizit politisch. "Chambres Separees" etwa: Da versuchte er, den braunen Schatten seiner Kindheit zu entfliehen, um immer wieder eingeholt zu werden. Kulisse: Deutschland zur Wirtschaftswunderzeit. Oder er unternahm eine bewegende Aufarbeitung der Biografie des jüdischen Tenors Joseph Schmidt vor dem Hintergrund der 1940er Jahre. In Another Dream ließ Hoghe den Aufbruch der 68er zu einer Traumtrilogie über das 20. Jahrhundert werden.

"Frühlingsopfer"

Wenn einen Raimund Hoghe, der zwei Jahrzehnte lang zur Welt und zu den Themen der Zeit Stellung bezog, aus- und nachdrücklich Stellung bezog, nun bloß noch die eigene "Urmutter" und ihre "schreienden Frauen" zur Rebellion anstacheln - dann mag das als Hinweis dafür gelten, dass dieser Mann im eigenen Saft schmort.

Für seine neueste Arbeit nahm sich Hoghe einen Klassiker vor: Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky. Sacre - The Rite of Spring heißt das Werk bei Raimund Hoghe, und der Tanzkünstler, der selbst auch als Kritiker und Journalist tätig war, bezeichnet es als "ein Nachdenken über die rituelle Funktion von Theater".

Konkret sah man bei der Uraufführung im Brüsseler Kaaitheater (2003) eine große, leere Bühne, hinten rechts eine grüne Zimmerpflanze, in der linken Ecke eine schlichte Wasserschale, die im zähen Verlauf des Abends nach vorne gebracht wird. Dazu hörte man vom Tonband die Stimme Strawinskys, der über die Entstehung seiner Partitur plaudert. Und natürlich dessen Musik in der grandiosen Einspielung Leonard Bernsteins. "It's all about sex", soll Bernstein bei der Aufnahme seinen Orchestermusikern gesagt haben. Diese Leidenschaft erklingt dann auch, sie tröstet ein wenig über den sonst nicht sehr ereignisreichen Abend hinweg.

"Hoghes Körper bricht wie der des Frühlingsopfers aus der Gemeinschaft aus. Hoghes Choereografie ist eine der Annäherung und Abstoßung, die in ihren dramatischsten Momenten der Dynamik der Musik aufs Schönste Folge leistet. Es pulst, es knistert, begehrliches Vibrieren durchzuckt die Luft - eine Annäherung zweier Männer findet statt, getragen von selten gesehener Zärtlichkeit." So schrieb ein Rezensent über die Brüsseler Aufführung. In Österreich wird diese Arbeit im Tanzquartier Wien zu sehen sein (23.-25. 9.)

Tanzquartier Wien

Im TQW, situiert im Wiener Museumsquartier, mit dem Österreich seit dessen Gründung im Jahr 2001 - nach zehn Jahre dauernden kulturpolitischen Querelen - erstmals über eine Institution verfügt, die sich zur Gänze zeitgenössischer Tanz- und Performance-Kunst widmet, wird auch die zweite einschlägige Produktion des Herbsts über die Bühne gehen: Fake Space II von Liz King und ihrem Tanztheater Wien.

Eine "Völkerwanderungssaga". Ganz der länderübergreifenden Programmpolitik des TQW folgend, wollen uns die teilweise als Flüchtlinge in Österreich lebenden Gastperformerinnen aus allen Teilen der Welt unter Führung der Engländerin, die 1999-2003 an der Volksoper residiert hat, und ihres langjährigen Ensemble-Mitglieds Esther Balfe vor Augen führen, dass auch unsere Sesshaftigkeit bedroht ist. Zunehmend finden wir uns im Ungewohnten, an transitorischen Orten, in instabilen Verhältnissen. Vertraute Codes sind obsolet geworden. Die globale Völkerwanderung lässt Geschichten parallel verlaufen. "Mystische und magische Zeichen sind Zeitgenossen der westlichen Gegenwart und unserer Kultur", steht in einer programmatischen Schrift des Tanztheaters Wien. Die Uraufführung am 28.10. im TQW ist bis 31.10. zu sehen.

Bühne der Welt verlassen

Raimund Hoghes Rückzug ins eigene Innenleben ist symptomatisch für den Niedergang einer "Szene". Einer ganzen Stilwelt. Das ist leider zu konstatieren: Das Tanztheater hat die Bühne der Welt verlassen. Zwei Jahrzehnte nach seinem fulminanten Aufbruch scheint es ganz und gar in der Welt der eigenen Bewegung festzustecken. Eine andere existiert nicht mehr. Außer der Liebe.

Die Suche nach Liebe treibt an. "... damit sich einer unser erbarmt, damit wir uns noch einmal näher kommen", formuliert es die Welt-Choreografin Pina Bausch aus Wuppertal, die einst mit der Maxime angetreten ist: "Nicht wie sich Menschen bewegen interessiert mich, sondern was sie bewegt." Mit Mann-Frau-Themen oder -Beziehungen, mit allerlei sich wiederholenden Ohnmachten, Sehnsüchten und Unfähigkeiten bewegt sie sich mittlerweile im Kreis, bloß die Schattierung wechselt manchmal noch.

In besseren Zeiten gab es da die unterschiedlichsten Farben: die Kindfrau, die plötzlich mit der Distanziertheit einer Grande Dame das ganze Register der "Weiblichkeit" zu ziehen versteht; den brillanten "tumben Tor" und den "raunzenden Vamp"; den traurigen Clown und großartigen Wirrkopf, der, zugleich ein Anarchist, bereit ist, die fest gefügte Welt der Konventionen jeden Augenblick aus den Angeln zu heben. - Diese Figuren, auch das eine von Pina Bauschs Eigenheiten, tauchen gleichsam als Wiedergänger in vielen ihrer Arbeiten immer wieder in immer neuen Konstellationen auf.

Da wurde rauer, herber Charme zelebriert und jungenhafte Verlegenheit, da tauchten Körper auf, die sich mit beängstigender Wucht in den Kampf ums Überleben warfen. Und da gab es die große, magere Pina selbst, Tänzerin von einer stillen Zurückhaltung, die sich in armverschlungenen Tänzen der Einsamkeit in einem stummen Beharren übte. - Alles, was Pina Bausch und ihre Kompanie in jener Zeit erschufen, war eine neue Art von Theater, war Welttheater, in dem Akteure aus aller Herren Länder zusammenkamen, um Prototypen menschlichen Verhaltens zu verkörpern, und dabei, jeder für sich und alle gemeinsam, eine unverwechselbare Identität zu finden.

Tanz wurde in jener Zeit in Wuppertal neu geboren. Dass er auf genau den Alltag aus war, aus dem die Zuschauer kamen, blieb lange Zeit irritierend. "Das Tanztheater besteht darauf, Menschen zu zeigen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollen", lautete das Credo. Theater war ein Ort, wo menschliche Belange mit Mut und Ausdauer neu verhandelt wurden. Wo jeder einzelne wichtig war, mit Stimme und Gesicht. Ein Theater war das, in dem eine staunende, schmerzhafte, verstörende, immer aber bewegende Weiterführung mit jedem Mal neu begann.

Weltstar Pina Bausch

Dagegen heute: Tänzerbewegungen erwecken den Eindruck, als seien sie am Computer entworfen. Der Choreograf wird auch in Tanztheater-Produktionen immer mehr zum Mann am Schneidetisch. Es wird beschleunigt, überlagert, verzögert und gestoppt, in hundert und einem Take. Figuren scheinen im Eiltempo zu handeln. Dann wieder formen die Arme der Akteure hoch über ihren Köpfen sich im Wind wiegende Baumkronen. In Zeitlupe. Glaubt wirklich jemand, die Zukunft des Tanzes könnte in der Nachahmung der Machart von Video-Clips liegen? Zumal diese Imitation unvermeidlich "patschert" geraten muss?

Mal gibt es Danse Macabre in klirrender Kälte, man versinkt im Eismeer der Verzweiflung und taucht mit kichernder Erleichterung wieder auf. Mal quält man sich, verletzt und bespuckt einander, und Frauen nehmen sich Männer wie im Schlaf. Dann wieder hat eine in Würde gealterte Transe ihren schwankenden Auftritt im Stöckelschuh, oder die rührende Minimalvariante einer Odette quält sich an der Rampe.

Man betet Mineralstoffe und Muskeln an. Nebulose Biografie-Schnipsel verdichten sich im Zeitraffer zur stundenkurzen Metapher über unsere wilde Jagd durchs Leben - Kopfkino einer Blinden? Oder "rechtloser Ausnahmezustand des Körpers", wie Tanz vom italienischen Philosophen Giorgio Agamben in seinem Buch "Homo Socer" definiert wird? Tanz sei eben Ohnmacht, sagt der Denker. Das Tanztheater in Agonie?

Pina-Bausch-Werkretrospektive

Düsseldorf, Essen, Wuppertal 1.-24. 10.

"Nefes" ("Atem"), ihre jüngste Arbeit, eine Hommage an die größte Metropole Europas, präsentiert Pina Bausch an der Berliner Volksbühne (2.-4. 9.)

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