"Alles dreht sich, alles bewegt sich“

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Eine große Ausstellung im Wiener Belvedere widmet sich der Kunstrichtung Kinetismus und zeigt eine umfangreiche Werkschau zur Abstraktion in Wien zwischen 1919 und 1929 im Kontext der europäischen Moderne. Ein Rundgang ist spannend und erkenntnisreich.

Ausdrucksstark, leidenschaftlich, körperorientiert: So stellt man sich die österreichischen Avantgarden vor. Gemeint ist damit die seit Jahrzehnten boomende "Kunst um 1900“ mit Klimt, Schiele und Kokoschka. Aber auch die in den letzten Jahren international stark gefragten Nachkriegsavantgarden. Insbesondere der Wiener Aktionismus, der aufgrund seiner Expressivität und des radikalen Einsatzes des Körpers oft als Fortsetzung der Schiele’schen Zeichnungen bezeichnet wird. Dass Wien aber auch eine Avantgarde der ganz anderen Art hatte, war bis in die 1990er Jahre nur in Fachkreisen bekannt. Erst im Jahr 2006 kam es im Wien Museum zu einer großen monografischen Schau des Wiener Kinetismus, 2007 folgte eine Präsentation im Neuen Museum Weimar. Die späte Wiederentdeckung erstaunt, tourten kinetische Werke doch bereits zu ihrer Entstehungszeit um die Welt.

"Wachsen lassen aus den eigenen Wurzeln“

Diese andere Avantgardebewegung, deren Name vom griechischen Wort "kinesis“ (Bewegung) abgeleitet ist, entstand in den frühen zwanziger Jahren rund um die Klasse "Ornamentale Formenlehre“ von Franz Cizek an der Wiener Kunstgewerbeschule. Cizek war als charismatischer Kunstpädagoge eine prägende Gestalt, der durch das offene geistige Klima, das in seiner Klasse herrschte, und die Befreiung der Lehre von formalen Zwängen erst eine Bewegung wie den Kinetismus ermöglichte. Sein Leitmotiv hat auch heute nichts an Aktualität eingebüßt: "Nicht lehren, nicht lernen - wachsen lassen aus den eigenen Wurzeln.“

Die Studierenden der Vorgängerinstitution der Angewandten setzten sich mit dem Kubismus, auch mit dem italienischen und russischen Futurismus auseinander und etablierten unter der Devise "Alles dreht sich, alles bewegt sich“ eine neue geometrisierend-abstrakte Kunstrichtung, die in Wien bisher keine Tradition hatte. Im Zentrum standen dabei die Begriffe Dynamik, Bewegung und Veränderung. Zugleich interessierten sich die Kinetisten für neue Themen: für Großstädte und die Technik - genauso aber für Tanz, Theater und Musik. Nicht minder wichtig war der Kunstrichtung die Auseinandersetzung mit "Gesetzen des Geistigen“; viele Werke spiegeln die Beschäftigung mit der Theosophie Rudolf Steiners, auch mit fernöstlicher Philosophie und Religion wider.

Erstaunlich war der Kinetismus auch aus emanzipatorischer Sicht, denn federführend waren hier vor allem Künstlerinnen: Erika Giovanna Klien, My Ullmann und Elisabeth Karlinsky. Dies hing wohl vor allem damit zusammen, dass die Klasse von Cizek vor allem von Frauen besucht wurde.

Dass diese speziell wienerische Ausprägung der europäischen Abstraktionstendenzen sich auch im internationalen Vergleich sehen lassen kann, zeigt jetzt eine große Ausstellung im Belvedere. Die in Kooperation mit der Universität für angewandte Kunst entstandene Präsentation mit dem Titel "DYNAMIK! Kubismus / Futurismus / KINETISMUS“ hat sich zum Ziel gesetzt, "eine umfangreiche Werkschau zur Abstraktion in Wien zwischen 1919 und 1929 im Kontext der europäischen Moderne“ zu zeigen, so Direktorin Agnes Husslein-Arco. Werke von bisher viel zu wenig bekannten Wiener Kinetisten, vor allem von Kinetistinnen, hängen im räumlichen Nebeneinander mit Bildern von Avantgarde-Stars wie Franz Marc, Pablo Picasso, Fernand Léger und Georges Braque.

Reger, internationaler Austausch

Der von Kurator Harald Krejci und Patrick Werkner zusammengestellte Rundgang durchs Untere Belvedere ist spannend und erkenntnisreich. Nicht nur weil man anhand von sechs Bereichen wie "Großstadtmythologie“, "Esoterik und Moderne“ oder "Das Theater und der Wiener Kinetismus“ eine Kunstrichtung entdeckt, die das Bild der österreichischen Avantgarde ungewohnt erscheinen lässt. Auch weil anhand zahlreicher Gegenüberstellungen zu sehen ist, wie sehr die heimischen Künstler und Künstlerinnen im regen Austausch mit internationalen Bewegungen standen, denen sie durchaus Paroli bieten können. Höhepunkte der Schau sind zweifelsohne die Werke der Wiener Kinetistin Erika Giovanni Klien. In Erinnerung bleiben ihre sensiblen Vogelflugstudien "Tauchender Vogel“ (1939) oder "Vogelflug“ (1952). Vor allem aber der sieben Meter lange Fries "Gang durch die Großstadt“ (1923), in dem Klien die Faszination an der urbanen Technisierung, gepaart mit einer Skepsis diesem Phänomen gegenüber, eindrucksvoll vor Augen führt. Lesenswert ist die umfangreiche Begleitpublikation zur Ausstellung im Springer Verlag, die dem Wiener Kinetismus zu einer verspäteten wissenschaftlichen Wertschätzung verhilft.

Dynamik! Kubismus / Futurismus / Kinetismus

Unteres Belvedere

Prinz-Eugen-Straße 27, 1030 Wien

bis 29. 5., Mo-So 10-18, Mi bis 21 Uhr

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