"Alles dreht sich jetzt um das Geld"

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Erwin Chargaff kritisiert eine Wissenschaft, die der ökonomischen Idee anhängt, dauernd alles verbessern zu müssen. Erwin Chargaff, ein Pionier der Biogenetik, ist gleichzeitig einer ihrer heftigsten Kritiker. Im folgenden einige seiner kritischen Anmerkungen:

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass unter allen Wissenschaften es die Biologie ist, die ihren eigentlichen Gegenstand nicht zu definieren vermag: Wir besitzen keine wissenschaftliche Definition des Lebens. In der Tat werden die genauesten Untersuchungen an toten Zellen und Geweben vorgenommen. Ich sage es nur zögernd und furchtsam, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass wir hier einer Art von Ausschließungsprinzip gegenüberstehen: unsere Unfähigkeit, das Leben in seiner Wirklichkeit zu erfassen, mag der Tatsache zuzuschreiben sein, dass wir selbst am Leben sind. Wäre dies so, dann könnten nur die Toten das Leben verstehen; aber sie publizieren in anderen Zeitschriften.

Wir zählen nur Zellen

Kein medizinisches Attest kann uns sagen, wann der Embryo zum Menschen geworden ist, worin die Menschwerdung besteht oder was der Embryo war, bevor er ein Mensch wurde. Alles, was wir tun können, ist die Zellen zu zählen und diejenigen Faktoren, die wir in den verschiedenen Stadien der Entwicklung isolieren können, zu untersuchen. Wäre das Lebewesen eine Flasche voller Chemikalien, so wäre das genug. Aber in der geheimnisvollen Übereinkunft zwischen Samen und Ei ist mehr geschehen als bloß ein Austausch von Neuigkeiten; und dieses Mehr können wir so wenig verstehen wie das Weniger des Todes.

Wir stoßen also mit dem Kopf gegen eine Wand, gegen eine Grenze: Grenze der Geburt, Grenze des Todes. Ist das so, weil der Lebende das Leben nicht erforschen kann, so wie der fliegende Pfeil seine eigene Geschwindigkeit nicht messen kann? Denn täte er es, so wäre es eine andere Geschwindigkeit, und wenn er es zu oft versuchte, fiele er zu Boden.

Trotzdem ist die Wissenschaft unermüdlich, sie krempelt sich die Ärmel auf und stellt unverzagt sogenannte Todesursachen fest: Krankheiten, die zum Tode geführt haben. Aber der Tod selbst ist ja keine Krankheit.

Die Medizin ist aber berufen, Krankheiten zu heilen; und so muss schließlich auch der Tod für sie eine Krankheit sein. Ich habe den Eindruck, dass die biologischen Wissenschaften - vielleicht ohne sich selbst Rechenschaft darüber zu geben - an der Abschaffung des Todes arbeiten.

Ist das alles wahr?

Ich bin reiner Biologe. Bei uns hat immer als unumstößliche Wahrheit gegolten, dass nichts richtig ist, wenn es nicht wiederholbar ist und wiederholt wurde von anderer Seite. Das Malheur mit der Wissenschaft besteht heute darin, dass die Versuche so kompliziert geworden sind, dass fast niemand mehr irgend etwas wiederholt. Ist also das, was da publiziert wird, im wissenschaftlichen Sinne wahr? Es ist fast unmöglich, das festzustellen. Es gibt kein menschliches Auge, das eine Milliarde Punkterln vergleichen könnte.

Und die Seele?

Der Begriff Seele ist verloren gegangen. Die Seele ist nämlich etwas, was beleidigend wirkt für den Wissenschaftler, denn er kann nichts von ihr aussagen, ob sie ein Gas ist, eine Flüssigkeit, ein Kristall, ob sie überhaupt definierbar ist in diesen Formen. Ich habe einmal einen Witz gemacht, ich habe vorgeschlagen, man sollte die Sterbebetten mit sehr genauen Instrumenten versehen, so dass man den Gewichtsverlust beim Tod messen kann. Ich meine nicht, dass man etwas finden wird, ich habe es so krass gesagt, um zu zeigen, wie sinnlos, die Materialisierung des Unmaterialisierbaren ist. Es ist so, als würde man einem Tausendfüßler sagen: heb deinen Fuß 737, der wird gelähmt sein. Er hat nie gedacht, dass der numeriert ist. Tausend Füße, aber man darf nicht sagen den bestimmten, dann ist man draußen. Und so ist es bei all diesen Dingen. Es gibt etwas was unter der Definition verloren geht, indem Moment, wo man anfängt, darüber zu reden.

Den lieben Gott belehrt

Ich glaube auch nicht, dass die Richtung der Forschung von einer Kommission gelenkt werden kann. Das Einfachste ist natürlich, wenn man sagt, die geldgebenden Organe, so etwas wie die Forschungsgemeinschaft oder das National Institute of Health in Washington, die eigentlich die ganze Forschung finanzieren, sind die, die den maßgebenden Einfluss haben. Die scheren sich aber wenig um die Ethik, sondern viel, viel mehr darum, wie sie dastehen werden in dem nächsten Budget. Die Naturwissenschaft in dem jetzigen Zustand ist tatsächlich ein Teil der freien Marktwirtschaft. Die frühere Naturforschung hat ihre Aufgabe darin gesehen, die natürlichen Vorgänge klarer zu gestalten, das heißt das Bestehende zu beschreiben und es immer klarer zu beschreiben, bis in die kleinsten Dimensionen hinein. (...)

In den sechziger Jahren ist die Möglichkeit erkannt worden, die Natur zu verändern oder gar die Natur zu verbessern, was ich für eine groteske Vorstellung halte. Wir verbessern ja auch nicht den Regen, indem wir den Regenschirm aufmachen, wir schützen uns nur vor einem Naturereignis. Es ist, glaube ich, nicht die Aufgabe der Naturforschung, sozusagen dem lieben Gott da eine Lektion zu erteilen und zu zeigen, wie man es besser machen kann. Diese ganze Idee, dass wir dauernd etwas verbessern müssen, ist eine ökonomische oder politische Idee, sie hat nichts mit Wissenschaft zu tun.

Patent auf Schwerkraft

Zu meiner Zeit konnte man kein Wissenschaftler werden, wenn man Geld haben wollte. Wir durften damals keine Patente anmelden. Heute sitzen schon die Studenten mit den Patentanwälten zusammen. Geld, Geld, Geld: Alles dreht sich jetzt ums Geld. Harvard und Yale hätten sich dadurch beschmutzt gefühlt. Für mich ist das Ganze ein Verbrechen. Die Geschichte mit der Patentierung ist vollkommen fehlgelaufen, denn Patente sind für Erfindungen, nicht für Entdeckungen. Heute hätte der Newton ein Patent auf die Schwerkraft.

Nur Bruchstücke

Wir alle kratzen mit einem stumpfen Werkzeug an einem ungeheuren Felsen herum. Wenn es uns gelingt, ein Bröckchen abzusplittern, so nennen wir das die Wahrheit über den Felsen. Wenn wir seine Zusammensetzung ermitteln, so sprechen wir von einem großen wissenschaftlichen Fortschritt. Glückte es uns, einige solcher Splitter zusammenzukleben, so haben wir den Felsen reproduziert; ja wir haben sogar die Schöpfung überholt, denn wir haben einen handlicheren Felsen erzeugt. Dabei ist der von uns untersuchte nur ein ungeheurer Felsen unter unzähligen; aber wir löschen unseren Wissensdurst mit der Verallgemeinerung, dass, wer etwas erklären kann, alles erklären könne.

Gespaltene Kerne

Zwei verhängnisvolle und in ihrer endgültigen Wirkung noch nicht abzuschätzende wissenschaftliche Entdeckungen haben mein Leben gezeichnet. Erstens: die Spaltung des Atoms. Zweitens: die Aufklärung der Chemie der Vererbung und deren darauf folgende Manipulation. In beiden Fällen handelt es sich um die Misshandlung des Kerns: des Atomkerns, des Zellkerns. In beiden Fällen habe ich das Gefühl, dass die Wissenschaft eine Schranke überschritten hat, die sie hätte scheuen sollen.

Auszüge aus:

"Das Feuer des Heraklit", "Unbegreifliches Geheimnis" (Klett-Cotta), "Die Gazette" (Aug. 2000), "Eingriffe in das Leben" (H.M. Gardner, Hrsg., Solaris, 1986), NZZ (v. 20. 8. 2001), "Scheidewege" (1/1981).

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