„Der Mensch wünscht sich eine Welt, in der Gut und Böse eindeutig zu unterscheiden sind, da er den angeborenen, unbezähmbaren Wunsch in sich hat, zu urteilen, bevor er versteht“, meinte Milan Kundera in seinem Essay „Die Kunst des Romans“ (1987). Als doppelköpfiges Ungeheuer hat der im vergangenen Jahr verstorbene Schriftsteller Raymond Federman in seinen spannend zu lesenden Hamburger Poetik-Lektionen („Surfiction: Der Weg der Literatur“, 1992) die Dualität bezeichnet, ein Ungeheuer, „das uns seit Jahrhunderten ein System von Werten, ethischen und ästhetischen Werten aufdrückt, die auf dem Prinzip von Gut und Böse, Wahr und Falsch, Schön und Häßlich basieren.“
Literatur, die in dieser Welt entsteht, von der sie dann auch erzählt, konnte immer schon beides: übernommene Ungeheuer festschreiben und sich damit in den Dienst welcher Sache auch immer stellen oder die Ungeheuer kritisch hinterfragen. Milan Kundera wünscht sich Letzteres und hält den Geist der Komplexität für den Geist des Romans. Es ist ja wohl ein unterscheidendes Qualitätsmerkmal von Literatur, wenn sie den Lesenden sagt: „Die Dinge sind komplizierter, als du denkst.“
Wir sind noch im Werden
Vielleicht hat Literatur keine bestimmte gesellschaftliche Aufgabe, sicher aber hat Literatur bestimmte Freiheiten: Sie kann nämlich alles sagen, was man sich nur vorstellen kann. „Egal, welche orthodoxen Vorstellungen, welcher Glaube, welcher Wert im Spiel ist, ein literarisches Werk kann sie immer auch verspotten, parodieren, irgendeine alternative und grotesk überzeichnete Fiktion dazu ersinnen … alles, was irgendwann einmal sinnvoll erschien, konnte Literatur in Unsinn verwandeln, hinter sich lassen und auf eine bestimmte Art transformieren, die die Frage nach dessen Legitimation und Angemessenheit stellen ließ“, schreibt Jonathan Culler in seiner „Literaturtheorie“.
Die Freiheit der Literatur ist die Freiheit, alles zu schreiben, auf jede mögliche Art. Das ist oft genug verstörend, irritierend, ärgerlich, provokant und subversiv und erklärt, warum in totalitären Systemen und in Gesellschaften, die Probleme mit der Presse- und Meinungsfreiheit haben, auch die Literaten Probleme bekommen.
Mit der Freiheit, die sie sich nimmt, erinnert Literatur die Leserinnen und Leser an die Welt als Projekt, erinnert sie daran, dass Menschen die Geschichte nicht einfach nur leben, sondern machen, erinnert sie an Möglichkeiten. Carlos Fuentes träumt vom „neuen Roman“, der erzählt, „daß die Menschheit nicht in der eisigen Abstraktion des Getrennten lebt, sondern im warmen Puls einer höllischen Vielfalt, die uns sagt: Wir sind noch nicht, wir sind noch im Werden.“
Das nächste BOOKLET erscheint am 4. Februar 2010 als Beilage in der FURCHE Nr. 05/10
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