Alltag raus, Urlaub rein!

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Warum es uns forttreibt, wo es uns hinzieht. Das Kulturmuster Tourismus.

Alles Unglück dieser Welt kommt daher, dass es die Menschen in ihren Wohnungen auf die Dauer nicht aushalten - so hat einmal ein schlauer Kopf die ganze Problematik unserer Unrast auf den Punkt gebracht. Während Novalis noch meinte, jede Reise führe letztlich immer nur nach Hause, denn das ganze Leben sei als eine solche zu begreifen, findet der moderne Lebensstil im Unterwegssein sein Ziel. Hinaus, nur hinaus, lautet das Motto, Mobilität wird zum Wert an sich. Im Unterwegssein zu sich finden, funktioniert das? Aber wer sucht schon sich, wenn unmittelbar außerhalb Ablenkungen lauern, die als konfektionierte Produkte auf mich als Protagonist einer Zielgruppe so zugeschneidert sind, dass ich in sie nur hineinschlüpfen muss, um gleich im Zustand erschwinglichen Glücks zu landen?

Was treibt Menschen fort?

700 Millionen Touristenankünfte weltweit und geschätzte 500 Milliarden US-Dollar Einnahmen aus dem Tourismus berechnete die Welttourismusorganisation WTO für 2003. Der Tourismus gehört zu den bedeutendsten Wirtschaftsbranchen weltweit. Die Umsätze steigen von Jahr zu Jahr, die Zahl der Touristen nimmt trotz Terrorangst weiter zu. Was treibt die Leute hinaus aus ihren vergleichsweise begünstigten Lebensumständen, denn es sind ja in erster Linie die Menschen in den wohlhabenden westlichen Industrieländern, die sich auf die Socken machen? Und das zum Vergnügen, nicht weil sie wie Zugvögel oder Nomaden keine Nahrung mehr finden.

Die Reisemotivation bildet den Schlüssel zum Verständnis dieses globalen Bewegungsbedürfnisses. Ganz allgemein gilt es zwischen Schubfaktoren, d.h. inneren Antriebskräften, und Zugfaktoren, äußeren Einflüssen, zu unterscheiden. Schubfaktoren sagen uns, dass wir weg müssen, um einem Mangel zu begegnen, den wir vor Ort erleiden - also Sonne statt Schnürlregen, Wellness statt Dalli-Dalli usw. Zugfaktoren bestimmen darüber, wohin wir reisen - es zieht uns an einen bestimmten Ort. Last-Minute-Bucher wollen nur weg, egal wohin sie die Schubkraft des nächsten Fliegers bringt. Weil die Tourismusindustrie aber den Markt für sich gewinnen will, wirbt sie unermüdlich, erfindet Trends und Moden, lockt mit Preisen oder der Einzigartigkeit von Ferienorten. Ziele können so unwiderstehlich anziehen, dass sie zu einem "Muss" werden. Aber im nächsten Jahr lockt eine andere Destination, hat sich die eigene Bedürfnislage gewandelt und die Karawane zieht weiter. Hingegen will der Feriengast, der seit den 1970er Jahren dasselbe Quartier, denselben Ort aufsucht, nur dort und sonst nirgends hin, etwa wegen der Landschaft oder der Größe der Schnitzelportionen, vielleicht auch wegen der Wirtin im Dirndlkleid. Dieser Zustand der Zufriedenheit wird jährlich wiederholt, elf Monate herbeigesehnt. Stammgäste wissen, was sie erwartet. Nach fünf oder zehn Jahren wird ihre Standorttreue mit einer Ehrennadel belohnt und sie dürfen sich ein bisschen als Einheimische fühlen.

Urlaub und Industrie

Reisten früher nur wenige, so bewirkte die soziale und politische Transformation der Gesellschaft im Laufe der Jahrhunderte auch eine Demokratisierung des Reisens. Mitte des 19. Jahrhunderts kam die Vergnügungsreise für Betuchte auf, entstanden die ersten Reisebüros, und das Bürgertum zog aus den Städten in die ländliche Sommerfrische. Erst die andauernde Friedensperiode nach dem Zweiten Weltkrieg und die Zunahme an Wohlstand und Freizeit führten zur Integration des Urlaubs in den industriegesellschaftlichen Lebensstil. Anfangs lebte man um zu arbeiten und der Tourismus war ein gesellschaftlicher Reparaturbetrieb, der den übermüdeten Körper und stockenden Motor wieder in Schwung zu bringen hatte. Der zeitweilige Auszug der Massen aus ihrem geschäftigen Alltag führte auch zur Kritik an dieser Gesellschaft, die so massive Defizite aufbaute, dass sie in drei Wochen Erholung kaum zu kompensieren waren. Aber die Arbeitswelt veränderte sich ebenso wie die Werthaltungen. Heute arbeitet man, um möglichst gut zu leben, die "Weg-von"-Bedürfnisse machten allmählich den "Hin-zu"Bedürfnissen Platz. Selbstverwirklichung, Freiheit, Eigenverantwortung haben heute einen anderen Platz in der Wertehierarchie, gelten in der Ich-Gesellschaft für Freizeit und Beruf. Menschen sehnen sich nach unmittelbarer sinnlicher Erfahrung, suchen sozialen Kontakt und Authentizität, möchten Boden unter ihren Fußsohlen spüren und nicht nur im Industriebetrieb, im Büro oder in der Küche funktionieren. Als Touristen wollen sie natürlich ihren Stoffwechsel mobilisieren, aber viele suchen nach Selbstverbesserung, nach Ergänzung, auch nach Stärkung ihres Selbstwertgefühls. Mit einem als gelungen bezeichneten Urlaub an einem prestigeträchtigen Ort lässt sich der Status in die Höhe schrauben, wird jedenfalls um Anerkennung bei Nachbarn und Verwandten gerungen. Mit jeder Ansichtskarte, jenem illustrierten Medium geschönter Welt, das als "Correspondenz-Karte" 1869 seinen Siegeszug in der touristischen Kommunikation antrat, wird dieser Zuwachs schriftlich vermittelt. Die herzlichen Grüße verkünden, dass der Alltagsfrust an mediterranen Stränden abgelagert und gleichzeitig die beschädigte Identität repariert wird.

Ausbruchsversuch Urlaub

Touristen wollen nicht nur wieder auftanken, sondern sie möchten auch etwas erleben, d.h. Abwechslung ins Leben bringen. Dieses Bedürfnis - im Volksmund als "Tapetenwechsel" bezeichnet - verweist auf einen Zustand der psychischen Sättigung. Die Urlaubsreise bringt die nötige Veränderung, löst den Alltag ab und wirkt sich positiv auf Nervensystem und Zufriedenheitsniveau aus. Der Ortswechsel verändert auch das Verhalten: Dort, wo einen keiner kennt, lässt es sich etwas zügelloser leben, laufen die Ballermänner aller Länder zur Höchstform auf, weil die Affektkontrolle wegfällt, jedenfalls weniger ernst genommen wird. Die Werbung beschwört den Kontrast zur Durchschnittsexistenz und provoziert Bedürfnisse wie Erwartungshaltungen: Alkoholexzesse, das Austoben sexueller Vorlieben, entfesselte Hingabe an das Vergnügen, Verlust für das Gefühl von Raum und Zeit - alles inklusive! Zutiefst profan, ähnelt das touristische Reisen darin der früheren Rolle von Festen und carnevalesken Ritualen, denn es führt als Form des Ventilbrauches aus der gewohnten Ordnung hinaus. Indem sich Touristen aus ihrer gewohnten Umgebung lösen, "jemand anders" werden, befreien sie sich wie Maskierte im Faschingstreiben von Zwängen und Identitätsdruck. Die Regeln werden zwar nicht ganz aufgehoben, aber in der Badehose am Strand werden soziale Unterschiede eingeebnet, und auf den alpinen Schutzhütten kursiert sowieso das Du, als wäre die klassen- und vorurteilslose Gesellschaft längst ausgebrochen.

Traum und reale Existenz

In der Begrenztheit des eigenen Ichs und dem Wunsch, der gewohnten Umgebung zu entkommen, liegt wohl eine Lösung für die Frage, weshalb dieser periodische Abschied vom Alltag und die Rückkehr in diesen zu einem kulturellen Konsens und zu dem globalen Muster geworden ist, das wir Tourismus nennen. Dem Individuum eröffnet sich die Chance, Traum und Wirklichkeit zu modellieren, Imagination und reale Existenz ineinander verschwimmen zu lassen. Der Tourismus lebt von der Verzauberung, von Phantasie und Sehnsucht, von Inszenierung und etwas Verlogenheit, und im Erlebnismarketing versucht er Unterhaltungswünsche und Neugier, Bedürfnisse nach Entgrenzung, Erneuerung, ja nach Erlösung in konsumfähige Produkte und Wirtschaftsleistung umzusetzen. Die Touristiker sind veritable Künstler im Erfinden von Traditionen und Bedeutungen, indem sie Destinationen als sehenswert kodifizieren, ja ganze Landschaften kulturell überschreiben: An diesem See übte Schubert den Notenschlüssel, auf jener Gstätt'n dribbelte der junge Sindelar, und überall dort, wo seine Majestät der Kaiser einmal Wasser gelassen hat, wurde aus dem Platz gewissermaßen eine Attraktion. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, wie die künstlichen Freizeitwelten mit ihrer individuellen Erlebnisgarantie zeigen.

Träume beleben und kolorieren unsere inneren Landkarten. Sie geben dem Nicht-Gewöhnlichen Raum, schaffen Spielraum für unsere Neugier und lassen unsere Phantasien für einige Stunden, Tage, Wochen Wirklichkeit werden. Also reisen wir letztlich, um unseren Träumen von einer vorgestellten schöneren Welt woanders als zu Hause näher zu kommen?

Der Autor istProfessor für Publizistik in Salzburg.

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