Als man sich von der Form löste

19451960198020002020

Die ungemein innovative Ära der russischen Avantgarde: "Chagall, Kandinsky und ..." im Historischen Museum Wien.

19451960198020002020

Die ungemein innovative Ära der russischen Avantgarde: "Chagall, Kandinsky und ..." im Historischen Museum Wien.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Malerei soll nach ihren eigenen Gesetzen geschaffen werden, genauso wie die Musik nach ihren eigenen geschaffen wird", schrieb Michail Larionow 1913 in einem der ersten Manifeste abstrakter Kunst. Larionow war nur einer von vielen Künstlern Rußlands, die sich zu Beginn dieses Jahrhunderts gegen die akademische Malerei und den sozial-tendenziösen Realismus der sogenannten "Wanderer" auflehnten. Im Moskau der zwanziger Jahre suchte man nach neuen künstlerischen Gestaltungsprinzipien, kämpfte für die Eigenständigkeit der Form und die Loslösung von der Naturnachahmung.

Stilistisch orientierten sich die malenden Revoluzzer nun stärker an der Avantgarde der westlichen Kultur, griffen aber zugleich auf die russische Tradition, auf die Ikonenmalerei und die Volkskunst, zurück. Das Ringen um die neue Kunst fand zwangsläufig außerhalb der offiziellen Schulen in Künstlergruppen wie "Karo Bube" oder "Bund der Jugend" statt. Nach der Oktoberrevolution 1917 sollte dies sich entscheidend ändern: Nun nahm die Avantgarde-Malerei eine besonders aktive Rolle ein. Ab 1919 wurden die Avantgardisten Professoren an Kunsthochschulen und Leiter der Lehrwerkstätten. Sie beteiligten sich aktiv am Aufbau neuer Museen und an der Gestaltung von Massenveranstaltungen und Straßenplakaten. Die Anerkennung war nur von kurzer Dauer, denn die Masse hatte kein Verständnis für die ungegenständlichen Formen.

Zugleich begann ab 1922 ein aktiver Kampf gegen die "linke Kunst", der von der konservativen Künstlergruppe "Assoziation der Künstler des revolutionären Rußlands" geführt wurde, die wieder an die gegenständliche Malerei der "Wanderer" anschloß. Zunächst fand die Auseinandersetzung nur im Rahmen von Ausstellungen statt, wurde ab Mitte der zwanziger Jahre aber zum ideologisch-politischen Kampfplatz. Nun forderte man die der Masse leichter zugängliche realistische Malerei als eigentliche Sowjetkunst und verbot ab 1932 alle anders ausgerichteten Schulen und Gruppen.

Wie ungemein innovativ die Zeit des "Russischen Experiments" (von 1900 bis 1930) war, davon kann man sich jetzt bei der Ausstellung "Chagall, Kandinsky und ..." im Historischen Museum Wien überzeugen. Denn dort zeigt man derzeit 100 Zeichnungen und Aquarelle von 41 russischen Künstlern. Die Ausstellung mit Werken aus dem Moskauer Puschkin-Museum ist Teil eines kulturellen Austauschprogramms zwischen Wien und Moskau und Gegenpart zu der im Vorjahr in Rußland präsentierten Schau "100 Zeichnungen und Aquarelle österreichischer Meister des 16. bis 20. Jahrhunderts".

Beim Gang durch die konzentrierte Ausstellung kann man sich anhand der kleinformatigen Exponate ein anschauliches Bild der unterschiedlichen künstlerischen Strömungen und ihrer wichtigsten Protagonisten wie Wassily Kandinsky, Marc Chagall, Kasimir Malewitsch und Wladimir Tatlin machen. Für die Aufgeschlossenheit der russischen Kunstszene dieser Zeit spricht auch, daß sich unter den Stars weitaus mehr Künstlerinnen - etwa Natalija Gontscharowa und Alexandra Exter - als vergleichsweise in der europäischen Avantgarde finden.

Spannend ist die stilistische Vielfalt und die hohe Qualität jedes einzelnen Blatts. Mit welch unterschiedlichen Ansätzen die Künstler zu einer neuen Formen- und Farbensprache gelangten, verdeutlicht das räumliche Nebeneinander: Etwa wenn Alexander Rodtschenkos streng geometrische Kompositionen wie "Lineare Konstruktion" mit Vera Jermolajewas "gesichtslosen Figuren" in einen Dialog treten oder wenn Alexander Deinekas comicartiges "Motorradrennen" und Kandinskys "Komposition S" sich gegenseitig in ein neues Licht rücken. Beim Verlassen der Ausstellung bleibt ein Gedanke: Wie kann - im Vergleich zu anderen Jahrzehnten - in so kurzer Zeit an einem Ort im Rahmen der Kunst soviel Aufregendes geschehen? Aber das hat man sich schon öfter gefragt und viele Antworten bekommen, die dennoch nie befriedigend erscheinen.

Bis 21. November

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung