Als unsere Welt noch groß war

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Antike Landkarten, Atlanten, Handschriften und Drucke sind Inhalt einer aktuellen Ausstellung in der Österreichischen Nationalbibliothek. Die Exponate erzählen ein Stück Wissenschaftsgeschichte und geben eindrucksvoll Auskunft von der Neugierde an unbekannten Erdteilen.

Die Österreichische Nationalbibliothek kann für ihre diesjährige Sommerausstellung "Annäherungen an die Ferne. Geografische Kostbarkeiten aus der ÖNB" aus dem Vollen schöpfen: Ihre Kartensammlung umfasst 1,5 Millionen Objekte. In der Mitte des Prunksaals der ÖNB liegt in einer Vitrine einer der fünfzig Bände des "Atlas Blaeu-Van der Hem". Dieses Werk gilt weltweit als der schönste und bemerkenswerteste Atlas, der jemals angefertigt wurde. 2003 nahm ihn die UNESCO in die Liste "Memory of the World" als Weltdokumentenerbe auf. Die ÖNB besitzt diese Kostbarkeit aus dem Nachlass des Prinzen Eugen. Nach seinem Tod bezahlte der Hof für dessen Büchersammlung ein Drittel mehr als für das Schloss Belvedere. Der "Atlas Blaeu-Van der Hem" ist ein Unikat, Ergebnis einer privaten Sammelleidenschaft, in vierzig Jahren zusammengetragen von dem Sammler Laurens van der Hem, basierend auf Karten, die er von dem berühmtesten Kartenhersteller der Niederlande, Joan Blaeu, erworben hatte. Dieser Joan Blaeu hatte selbst auch einen Atlas zusammengestellt, der 1662 als "Atlas Maior" in elf Foliobänden das gesamte Wissen über die damals bekannten Erdgegenden präsentierte und als das umfangreichste und teuerste Druckwerk seiner Zeit galt. Dieses Ansehen genießt der "Atlas Maior" bis heute. Der Aufbau des "Atlas Maior" ist der rote Faden der Wiener Ausstellung: Afrika, Asien, die Neue Welt.

Zwischen Fakten und Fantasien

Während in Deutschland der Dreißigjährige Krieg die Menschen verrohte und dezimierte, floss in den Niederlanden das Geld in Strömen aus den Handelsniederlassungen. Jeder Bericht aus der Ferne, die im 17. Jahrhundert noch wirklich fern war, erreichte wissenshungrige Leser, die staunend von exotischen Tieren, Pflanzen, Landschaften, Sitten und Gebräuchen fremder Menschen hören wollten. Diesen Markt befriedigten prächtige, kunstvolle Karten und Bücher, in denen mutige Entdecker, Reisende, Forscher ethnografisches, geografisches, botanisches und zoologisches Wissen aufzeichneten. Auch Händler, Soldaten, Siedler, Waldläufer (in Kanada) berichteten, beschrieben und übertrieben ihre Erlebnisse. Anhand solcher Werke, Ausdruck barocker Sinnenfreude, führt die Ausstellung in eine Zeit, in der sich Nicht-Wissen allmählich in Wissen verwandelte. Beispiel Afrika: Die Europäer kannten nur die Küsten, zeichneten dennoch munter Karten des Landesinneren von Afrika. Es dauerte lang, bis Kartografen zugaben, dass sich auf ihren Karten Fakten und Fantasie mischten, und sie sich entschlossen, unerforschte Gebiete als weiße Flecken zu belassen. Erst im 19. Jahrhundert verschwanden die weißen Flecken durch Forschungsreisen "ins Herz der Finsternis". Die Ausstellung und der hervorragend geschriebene und bebilderte Katalog erhellen, dass einerseits Einzelreisende das Bild ferner Länder erweiterten - wie der nach Weglänge und Zeitdauer bedeutendste Asienreisende des 17. Jahrhunderts, Jean-Baptiste Tavernier, der in 40 Jahren sechs große Fußreisen in das Osmanische Reich, nach Persien und Indien schaffte und den größten blauen Diamanten der Erde nach Europa brachte. Andererseits waren auch Bücher wie jene von Oliver Dapper höchst erfolgreich, der nie seine Heimat, die Niederlande, verließ und dennoch eindrucksvolle Synthesen des Wissens über Afrika, den Vorderen Orient, Indien und China zusammenstellte: Ein "Lehnsesselschreiber" für "Armchair Readers".

Schwierig war für Autoren das Herankommen an Seekarten: Sie galten als streng geheim. Denn bei allem echten Wissensdurst stand das angewandte Wissen zum Zweck kolonialer Herrschaft im Mittelpunkt des Interesses. Um Ausbeutung und Versklavung zu rechtfertigen, scheuten die Autoren nicht davor zurück, beispielsweise Afrikaner als Nicht-Menschen darzustellen. Abbildungen von Monstern, Riesen und Zwergen, einäugigen und einfüßigen Kreaturen und Mischwesen zwischen Mensch und Tier lassen erahnen, wie emotionsgeladen im 17. Jahrhundert die Annäherung an die Ferne war.

Annäherung an die Ferne. Geografische Kostbarkeiten aus der ÖNB

Prunksaal der ÖNB, Josefsplatz 1, 1010 Wien

bis 8. November, Di -So 10 -18, Do 10 -21 Uhr

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