Alte Särge, neues Leben

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Vor zehn Jahren startete der wohl ungewöhnlichste Wohnbau Wiens: die Sargfabrik als modellhafte Verbindung von Wohnen, Arbeit, Kultur und Sozialem.

Ende der neunziger Jahre präsentierte sich Wien in einem Folder als Architekturstadt, die auch abseits kaiserlich-königlicher Repräsentationsbaukunst internationale Qualität zu bieten hat. Ausgewählt wurden dafür drei Wohnbauten: der Karl Marx-Hof - die Ikone des sozialen Wohnbaus im Roten Wien der zwanziger und dreißiger Jahre - das Hundertwasser-Haus - seit den achtziger Jahren eine der größten Touristenattraktionen der Stadt - und die "Sargfabrik", die dagegen nur wenigen Wienern und noch weniger Touristen ein Begriff ist. Den ungewöhnlichen Namen bezieht der mehrteilige Gebäudekomplex im 14. Bezirk von seinem Standort, auf dem sich einst die bedeutendste Fabrikationsstätte für Särge in der gesamten Donaumonarchie befand. Die unerwartete Publicity wiederum verdankt er der innovativen und für Wien unorthodoxen Wohnphilosophie seiner Architekten und Bewohner.

Mieter=Bauherr=Architekt

Es begann mit einer Gruppe von knapp 40 Leuten, die mit den Standards des Wohnungsmarkts, aber auch mit den konventionellen Lebensformen in Wien nicht mehr zufrieden waren. Gemeinsam mit den Architekten vom "Bau-Künstler-Kollektiv" BKK-2 gründeten sie den "Verein für integrative Lebensgestaltung" und nahmen 1993 konkrete Planungen für ein Wohnmodell nach eigenen Vorstellungen in Angriff. Ihr Haus sollte freizeittauglich und gemeinschaftsfördernd sein, das Leben darin aber auch gesellschaftspolitischen Ansprüchen genügen: Wohnen, Kultur und Integration lauteten die Schlagworte, die vor allem von den beiden BKK-2-Partnern Johann Winter und Franz Sumnitsch in ständiger Abstimmung mit den künftigen Bewohnern in eine dreidimensionale Form gebracht wurden.

Nach dreijähriger Bauzeit wurde die Sargfabrik 1996 eröffnet - und noch im selben Jahr erhielt BKK-2 den angesehenen Adolf Loos-Architekturpreis, nicht zuletzt für die gelungene Mischung aus modernen Neubauten und adaptiertem Altbestand. So wurden neben einem gründerzeitlichen Mietshaus auch der Schornstein der ehemaligen Sargfabrik in die Wohnanlage integriert. Trotz einer gewissen Dichte verfügt das Blockinnere, das sowohl von der Goldschlagstraße als auch von der Matznergasse öffentlich zugänglich ist, über attraktive Freiräume: Allen voran die weitläufigen Dachgärten, die gemeinschaftlich genutzt und vielfältig begrünt sind - etwa mit Obstbäumen und Gemüsebeeten. Daneben ein Hof mit großzügigem Biotop, ein Kinderspielplatz und eine Ballspielwiese. Und nicht zuletzt die offenen Laubengänge und Balkone, die jeder der 73 Wohnungen zugeordnet sind.

Kreativ mit Gesetz umgehen

Um alle architektonischen Vorstellungen verwirklichen zu können, bedurfte es jedoch eines Kunstgriffs der Architekten: Sie definierten die Anlage als Wohnheim und waren damit in der Lage, manch hinderliche oder auch kostentreibende Vorgabe der Wiener Bauordnung zu umgehen. So ersparte man sich beispielsweise die obligaten Vorräume und durfte Standardgrößen von Zimmern unterschreiten - zu Gunsten individueller Lösungen für die künftigen Bewohner. Auch das Garagengesetz, dem zu Folge für jede Wohnung ein Abstellplatz zu schaffen ist, schreibt für Wohnheime nur eine 10-prozentige Deckung vor. Drei dieser erforderlichen Garagenplätze wurden in der Sargfabrik als Car Sharing-Plätze konzipiert, auf den verbleibenden Stellflächen drängen sich heute die Fahrräder der Bewohner.

"Allein der Verzicht auf eine Tiefgarage ermöglichte uns die Finanzierung zahlreicher Gemeinschaftseinrichtungen", macht Architekt Franz Sumnitsch die Dimension dieser Einsparung bewusst. Im Unterschied zu normalen Wohnhäusern werden bei Wohnheimen auch Gemeinschaftsflächen gefördert. Das Café-Restaurant in der Sargfabrik musste dafür lediglich als Heimküche definiert werden, die Becken im Badehaus wiederum gelten als Gemeinschaftsbadewannen. Geschenkt wurde den Bewohnern dennoch nichts. Jeder Mieter zahlte zu Beginn einen Finanzierungsanteil von rund 60.000 Euro, wovon etwa 11.000 Euro auf die kollektiven Einrichtungen entfielen. Und aus den monatlichen Mieten werden unter anderem das Restaurant, der Kulturbetrieb sowie ein Sozialfonds bezuschusst: Letzterer kommt Bewohnern in finanzieller Notlage zu Gute - denn kommunale Wohnbeihilfe gibt es für Heime keine.

Multifunktioneller Raum

"Die Bauordnung ist kein Hindernis für innovative Architektur, man muss nur kreativ damit umgehen", betont Johann Winter und veranschaulicht dies anhand der stark differierenden Raumhöhen in den Wohnungen: "Die vorgeschriebene Mindesthöhe beträgt 2,50 Meter - wir gingen teilweise auf 2,26 Meter herunter, was für Bad, WC und Schlafzimmer völlig ausreicht. Dafür sind die Wohnzimmer bis zu fünf Meter hoch - wodurch wir die niedrigeren Räume rechnerisch aufwogen und dem Gesetz genüge taten." So konnten BKK-2 unter einem Dach unterschiedlichste Wohnungstypen sowie eine Vielzahl anderer Nutzungen unterbringen: vom Vereinsbüro, das die Hausverwaltung und den Kulturbetrieb der Sargfabrik organisiert, über den Montessori-Kindergarten und einen Veranstaltungssaal für 240 Personen bis hin zum Waschsalon, der auch Kommunikationsort ist.

Die orange Fassadenfarbe, durch die sich die Sargfabrik von der benachbarten Bebauung deutlich abhebt, wurde zum Markenzeichen - und fand bei der jüngsten Erweiterung - einen Baublock weit entfernt - erneut Anwendung. "Miss Sargfabrik" lautet die kryptische Bezeichnung dieses im Jahr 2001 fertiggestellten Hauses von Winter und Sumnitsch, die mittlerweile unter BKK-3 firmieren. Das Präfix "Miss" birgt einen Hinweis auf den Standort, die Missindorfstraße - bringt aber auch zum Ausdruck, dass es sich dabei um die jüngere und kleinere Wohnanlage handelt. Wie schon in der Sargfabrik bieten die Wohnungen auch hier räumliche Abenteuer: Charakteristisch sind die fließenden Übergänge zwischen den unterschiedlich Wohnungsbereichen in Form von schiefen Ebenen. In Folge der umfassenden Mitbestimmung durch die Bewohner weisen die Wohneinheiten allesamt unterschiedliche Grundrisse mit spezifischer Elektroplanung, eigene Bodenbelege, Fliesen und Farben auf.

Der "Verein für integrative Lebensgestaltung" - auch dieses Mal Bauherr - wünschte sich für die Miss Sargfabrik unter anderem einen Clubraum, der von den Jugendlichen selbst verwaltet wird, weiters eine Gemeinschaftsküche für Parties oder Besprechungen, einen Medien- und Lesesaal sowie eine kleine Gästewohnung. Hier können auch jene probewohnen, die keinen Platz mehr in den beiden Anlagen gefunden haben: Allein für die 39 Apartments in der Miss Sargfabrik gab es 400 Anmeldungen, bereits zu Baubeginn waren 50 Prozent der Wohnungen vergeben. Dass man durch den Status als Wohnheim trotz relativ hoher Eigenmittel kein direktes Wohnungseigentum erwerben kann, tut der Attraktivität der beiden Komplexe offensichtlich keinen Abbruch. Die einzigartige Möglichkeit der Mitbestimmung und Mitgestaltung an der gesamten Sargfabrik, an der jeder der knapp 200 Bewohner Anteilseigner ist, scheint dies mehr als aufzuwiegen.

Heterogene Gesellschaft

Die Ziele des Vereins - Wohnen, Kultur und Integration - wurden zweifellos erfüllt: Sargfabrik und Miss Sargfabrik sind moderne Niedrigenergiehäuser und stehen für ökologisches Wohnen. Die Kulturveranstaltungen, das Badehaus sowie das Café-Restaurant beleben das gesamte Viertel. Und schließlich wurden 15 Prozent der Wohnungen an alte Menschen, Behinderte, Flüchtlinge, Studenten sowie an eine sozialpädagogische Wohngemeinschaft von Jugendlichen vergeben. "Durch den Trend zum Homeworking wurde mittlerweile auch das vierte Ziel unseres Vereins - nämlich "Arbeit" - in der Sargfabrik Realität", bilanziert Franz Sumnitsch. Ursprünglich musste dieser Anspruch aus dem Konzept herausgenommen werden, da er den Förderrichtlinien nach nicht mit einem Wohnheim zu vereinbaren war. Nun hielt diese Nutzung aber durch Telearbeitsplätze, Arztpraxen sowie das Architekturbüro von BKK-3 quasi Einzug durch die Hintertür.

Der Autor ist Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist.

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