ALTE TEXTE, neue Sprache

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Klassiker leben, weil wir auf die Fragen, die sie stellen, noch keine Antworten gefunden haben: Plädoyer für die Wieder-Lektüre von Werken, die auch heute noch verstören.

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Klassiker leben, weil wir auf die Fragen, die sie stellen, noch keine Antworten gefunden haben: Plädoyer für die Wieder-Lektüre von Werken, die auch heute noch verstören.

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Italo Calvino (1923-1985), heute mit Romanen wie "Der Baron auf den Bäumen" oder "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" selbst schon ein Klassiker der italienischen Literatur, war ein begnadeter Leser. Sein eigenes Werk war eine spielerische Umwandlung der Wirklichkeit, fantastische Auswüchse gehörten zur Grundausstattung. Er stand in der Tradition der Moderne, liest man jedoch seine Essays, lernt man einen leidenschaftlichen Liebhaber der literarischen Klassiker kennen. Er eignete sie sich auf seine eigene Weise an. Herkömmliche Interpretationen interessierten ihn nicht. Den Autor aus einer anderen Epoche empfand er als Gesprächspartner und nicht als Autorität. Gern berichtete er darüber, was die Lektüre mit ihm anstellte und was er aus der Lektüre machte. Kein Text war zeitlich oder räumlich so weit weg von ihm, dass er nicht etwas anzufangen wusste mit ihm. Und sei es auch nur, dass ihm Fragen aufgingen, sobald er seine Zeit dem Lesen widmete.

Bewusstseinsarbeit an Lesern

"Liest man Xenophon heute", schreibt er einmal, "hat man unwillkürlich den Eindruck, einen alten Kriegsdokumentarfilm anzusehen, wie sie in Kinos oder auf Video hin und wieder einmal gezeigt werden." Mit Boris Pasternak sucht er den Streit, wenn er sich "Doktor Schiwago" vornimmt und sich bei ihm "eine Spur Unzufriedenheit und Widerspruch" einstellt. "Endlich ein Buch, mit dem man diskutieren kann! Doch manchmal bemerkt man mitten im Disput, dass jeder von etwas anderem spricht. Mit den Vätern zu diskutieren ist eben schwer." Calvino gerät ins Schwärmen bei Diderot, Daniel Defoes "Robinson Crusoe" nimmt er als "Brevier der Kaufmannstugenden" zur Kenntnis, und über "Der rasende Roland" von Ludovico Ariosto kommt Calvino ins Staunen, weil er das Buch als ein Epos liest, "das sich weigert anzufangen, und das sich weigert aufzuhören." Alles, was Calvino der Lektüre für wert befindet, befördert die Entwicklung seines geistigen und seelischen Befindens. Aber anders als sein um neun Jahre jüngerer Landsmann Umberto Eco, ebenso ein Vorzeige-Intellektueller, bleibt Calvino wählerisch. Die Trivialliteratur, der sich Eco hingebungsvoll und bisweilen recht sentimental widmet, findet bei ihm keinen Platz. Für ihn zählen Klassiker, also Werke von Autoren - zugegeben: Autorinnen spielen bei ihm kaum eine Rolle -, die über Jahrzehnte, Jahrhunderte, ja Jahrtausende Bewusstseinsarbeit an Lesern betreiben.

Seltsam, dass, wenn wir auch sozial, persönlich, politisch, religiös, ökonomisch unter vollkommen anderen Verhältnissen leben als die Generationen vor uns, die alten Texte immer noch zu uns sprechen, als wären ein paar Jahrhunderte auf oder ab im Austausch von Ideen kein Problem. Wer glaubt schon heute noch an griechische Götter oder wer meint nicht, dass unsere Zeit die Shakespear'schen Killer-Monarchen locker überwunden hätte. Und dennoch fühlen wir uns im Innersten getroffen, wenn wir uns die Taten dieser so fernen, uns so fremden Gestalten ansehen. Das hat einen Grund. Ein Klassiker hat nur dann das Recht ein solcher genannt zu werden, wenn uns die äußeren Umstände, unter denen die Figuren leiden und kämpfen und darben und lieben, so wenig kümmern, dass wir sie als Variationen unseres eigenen Ichs zu nehmen bereit sind. Wenn sich nach Georg Büchner die Frage stellt, "Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?", dann entspringt diese den Verhältnissen einer Zeit grauenhafter autoritärer Zustände, aus der Welt geschafft haben sie wir aufgeklärten Demokraten dennoch nicht.

Klassiker leben, weil wir auf die Fragen, die sie stellen, noch keine Antworten gefunden haben. Deshalb verbietet es sich für uns auch, sie im sicheren historischen Abstand zu bewerten, als hätten wir in unserem Überwindungseifer die Gefahrenzonen bereits überwunden. Die Klassiker brennen, sie setzen uns zu, kennen keine Gnade. Wer meint, sie würden mit ewigen Wahrheiten aufwarten, die man getrost im Herrgottswinkel aufstellen darf, oder dass sich in wohlgeformten Sätzen auch wohlgeformte Wirklichkeiten einnisten, befindet sich schon auf dem Holzweg. Ein echter Klassiker geht hart ran an das Leben. Er verstört mehr, als dass er beruhigt. Er gehört der hartnäckigen Spezies der Schlafräuber an.

Jede Übersetzung ist Interpretation

Als Leser dürfen wir uns heutzutage verwöhnt fühlen. Wir werden versorgt mit Klassikern auch entlegener Sprachen und Räume, oft dürfen wir gar wählen zwischen verschiedenen Übersetzungen ein und desselben Textes. An Übertragungen von Shakespeare-Dramen ins Deutsche herrscht überhaupt kein Mangel. Man kann sie sich in der altbewährten Fassung von Schlegel-Tieck vornehmen, in der wesentlich frecheren von Erich Fried, in der mustergültig textnahen und etwas unterkühlten von Frank Günther, um ein paar wenige zu nennen. Warum aber genügt uns nicht jene frühe Übertragungsleistung der Romantiker, die in ihrer Shakespeare-Begeisterung für den deutschen Sprachraum so Gewaltiges geleistet haben? Jede Übersetzung bedeutet Interpretation, die nicht allein etwas über den Verfasser aussagt, sondern die persönliche Verfasstheit des Übersetzers mit einschließt. Schlegel-Tieck gingen sehr vorsichtig vor. Man meint direkt zu sehen, wie unheimlich ihnen Shakespeare in seinen derben, wüsten Szenen ist, die sie der deutschen Öffentlichkeit nur geglättet zumuten. Das eine oder andere obszöne Wortspiel lassen sie stillschweigend unter den Tisch fallen. Ist das eine lässliche Übersetzersünde oder schon Fälschung? Ohne Eingriffe in die Substanz kommt jedoch keine Übersetzung aus.

Aber warum veralten Übersetzungen überhaupt? Das ist gewiss kein reines Sprachproblem, sondern eines der Auffassung. Der Geist der Zeit denkt in jeder Übersetzung mit, in Nuancen und Details bricht sich die Gegenwart des Übersetzers Bahn. Und wie beeinflusst das Wissen über die Persönlichkeit eines Autors die Übersetzung? Von Isaak Babel, dem bedeutenden Erzähler aus Odessa, waren wir mit den Übersetzungen von Milo Dor und Reinhard Federmann recht gut bedient. Genaues über das Schicksal Babels wussten die beiden nicht, nur dass der "Stalinsche Säuberungswahn auch vor diesem Klassiker der neuen russischen Literatur nicht haltgemacht hat." Von der Angst und der Not des in Ungnade gefallenen Dichters aber machen sich Bettina Kaibach und Peter Urban in einer Neuausgabe ein detailliertes Bild. Hat das Einfluss auf das Übersetzen?

Kritikfähigkeit schärfen

Die neue Version ist genauer, wie ein Vergleich der beiden Versionen der Erzählung "Der König" zeigt. Dor und Federmann ziehen einen Dialog zusammen, wenn ihnen Wiederholungen unangenehm auffallen. Das Stilmittel, Aufgeregtheit zu simulieren, werten sie als Ungeschick und verbessern Babel. Die neue Übersetzung ist präziser, wenn die Schärfe des politischen Ausnahmezustands benannt wird. Es ist von einer Razzia die Rede, wo es früher heißt, dass jemand "ausgehoben" werden soll. Die etwas missverständlich als "Detektive" bezeichneten finsteren Gestalten bei Dor/Federmann sind in der neuen Übersetzung "Spitzel". Der politisch bedrohliche Hintergrund tritt jetzt schärfer hervor, was einen leichter verstehen lässt, warum ein so mächtiger Staatsapparat einen Schriftsteller so dringend in die Knie zwingen musste.

Wir brauchen die Klassiker, damit die Klassiker von morgen ihre Maßstäbe finden. Und die Leser brauchen ihre Klassiker, damit sie ihren Zeitgenossen nicht bedingungslos alles abkaufen und die Kritikfähigkeit schärfen. Und die Klassiker aus fremden Sprachen brauchen wir schon deshalb, um an Weitblick zu gewinnen. Aufregend ist das sowieso.

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