Am "Wir-Gefühl" gescheitert

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Manfried Rauchensteiner, Österreichs profiliertester Militärhistoriker und Autor eines 1222-Seiten-Bestsellers zum I. Weltkrieg, hat dieser Tage im kleinen Kreis freimütig gestanden: Selbst er konnte nur einen Bruchteil jener Bücherflut lesen, die heuer zur 100. Wiederkehr des Kriegsbeginns erschienen ist. Dabei erwiesen sich manche Nationen, Frankreich etwa, als historisch besonders eifrig, andere dagegen als recht desinteressiert. Daneben blieb noch Raum für allerlei späte "Enthüllungen", etwa über Kriegsschuld und -verbrechen von damals - samt ihren Hintermännern.

Der "History-Boom" wird auch 2015 nicht nachlassen, da erwarten uns die Jahrestage zum Ende des II. Weltkriegs, zur Befreiung von Auschwitz (bald schon ohne lebende Zeitzeugen), aber auch zur Gründung unserer II. Republik 1945 und zum Staatsvertrag 1955.

Kein Zweifel: Geschichte lebt und muss immer neu interpretiert werden. Spannend bleibt dabei die Frage, was vergessen werden darf und was bewahrt werden soll. Und groß ist die Verlockung, aus längst vergangenen Geschehnissen die rhetorischen Waffen für neue Machtspiele zu schmieden. Ein erster Versuch, das zu Ende gehende Gedenkjahr zu bilanzieren, zeigt enorm viel Ambition der Experten, aber erstaunlich wenig europäisches "Wir-Gefühl".

Beispiel 1: Wo am Schauplatz Sarajevo ursprünglich ein Schulterschluss nahezu aller Staatsmänner der (33) Kriegsparteien von 1914-1918 geplant war, blieb am Ende lediglich ein umjubeltes Konzert der Wiener Philharmoniker in Anwesenheit von vier Präsidenten.

"Verletztes, müdes" Europa

Beispiel 2: Am alten Rathaus der bosnischen Metropole prangt jetzt eine neue Gedenktafel. Sie erzählt aber nicht von der hier begonnenen Todesfahrt des österreichischen Thronfolgerpaares, mit der alles begann, sondern erinnert an "serbische Kriminelle", die das Gebäude 1992 in Trümmer gelegt haben.

Beispiel 3: Der Versuch unseres Außenministeriums, jene Länder zum gemeinsamen Gedenktext zu bewegen, die einst Teil der Habsburger Monarchie waren, blieb erfolglos. Auch nach 100 Jahren war Wien dafür die falsche Adresse.

Beispiel 4: Der I. Weltkrieg, mit 17 Millionen Toten oft als"Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet, war dem Friedensprojekt der EU (abgesehen von einer Dokumentensammlung im Internet) keine erkennbare, die alten Feindbilder versöhnende Initiative wert.

Dabei erleben wir nahezu täglich, wie schwer diesem Europa jede Konfliktlösung fällt, solange uns das Fundament eines möglichst gemeinsamen Geschichtsbildes fehlt. Der Papst aus Lateinamerika hat das am Dienstag in Straßburg schonungslos ausgesprochen: Dieser "verletzte" und "müde gewordene" Kontinent brauche dringend die Neuentdeckung seiner tiefen und weit ausgreifenden Wurzeln - seine geistige, ethische und spirituelle Wachheit - um wieder wachsen und kommenden Stürmen trotzen zu können. - So endet 2014 zwar mit Verkaufserfolgen für manche Verlage, europapolitisch aber als eine fahrlässig versäumte Chance.

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