An den Grenzen der Erkenntnis

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Der altösterreichische Logiker Kurt Gödel stieß an die Grenzen der menschlichen Erkenntnis - und war dennoch in einer Wahnwelt gefangen.

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Der altösterreichische Logiker Kurt Gödel stieß an die Grenzen der menschlichen Erkenntnis - und war dennoch in einer Wahnwelt gefangen.

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Was für einen Vampir der Knoblauch, ist für einen Logiker die Widersprüchlichkeit. Kurt Gödel war Logiker und er hatte Widersprüche entdeckt: in der amerikanischen Verfassung. Seit Jahren hatte sich der Altösterreicher um die US-Staatsbürgerschaft bemüht - und nun diese frappierende Erkenntnis, just einige Tage vor der entscheidenden Anhörung durch einen Richter. Nicht einmal sein Freund Albert Einstein, der bei der Anhörung als Gödels Zeuge und Vertrauensperson fungieren sollte, konnte den weltfremden Wissenschaftler von dieser fixen Idee abbringen. Wohl nur der Anwesenheit Einsteins ist es zu verdanken, daß der Richter mit den weisen Worten "Sie brauchen das nicht auszuführen" Gödels gut vorbereiten Vortrag über die Widersprüche der Verfassung unterbrach und zu einem anderen Thema überging. Einige Monate später wurde Kurt Gödel amerikanischer Staatsbürger.

Gödel hat für die Logik denselben Stellenwert, wie sein Freund Einstein für die Physik. Mit seinen beiden "Unvollständigkeitssätzen" hat Gödel die Logik revolutioniert. Einem breiteren Publikum ist Gödel aber erst durch das Buch "Gödel, Escher, Bach" von Douglas R. Hofstadter bekannt geworden, das 1985 die Bestsellerlisten anführte (obwohl es wahrscheinlich kaum jemand gelesen hat). "Gödels Resultate sind von allerhöchster Bedeutung für die Mathematik und zunehmend werden auch die Auswirkungen auf unser Weltbild gesehen", meint der amerikanische Mathematikprofessor John W. Dawson, dessen Gödel-Biografie - die erste vollständige - kürzlich auf deutsch erschienen ist. Dawson beschreibt darin den großen Logiker als bahnbrechenden Wissenschaftler, aber auch als höchst neurotischen, ja psychotischen Menschen - das Klischeebild des verrückten Professors trifft auf Gödel zu wie sonst kaum auf jemanden.

Während seiner Kindheit in Brünn, wo er am 28 April 1906 geboren wurde, trug Gödel den Spitznamen "Herr Warum". Schon als Schüler fiel der Sohn eines Textilfabrikanten auf: als Eigenbrötler und als Hochbegabter; nur einmal erhielt er nicht die beste Note - ausgerechnet in Mathematik. Als erst 20jähriger Mathematik-Student der Universität Wien durfte er dafür an den Sitzungen des "Wiener Kreises" teilnehmen, der berühmten Gruppe von Gelehrten um die Wiener Philosophen Rudolf Carnap, Otto Neurath und Moritz Schlick.

Gödels Spezialgebiet waren logische Systeme: gleichsam mathematisierte Sprachen mit exakter Bedeutung, in denen mit Hilfe von wenigen Regeln aus einigen als wahr angenommenen Grundaussagen (Axiome) weitere wahre Aussagen abgeleitet werden können. Mit Hilfe logischer Systeme werden vor allem Zahlentheorien untersucht, etwa die Arithmetik. Schon mit seiner Dissertation "Die Vollständigkeit des logischen Funktionenkalküls" machte Gödel 1929 in Logikerkreisen Furore, indem er unter anderem den "Kompaktheitssatz" bewies: eine Erkenntnis, die mathematische Beweise wesentlich vereinfachte.

Zwei Jahre später folgte Gödels großer Coup: der "1. Unvollständigkeitssatz". Mit einem genialen Trick, der heute Gödelisierung genannt wird, gelang es ihm zu zeigen, daß in jedes logische System ein Trojanisches Pferd eingeschmuggelt werden kann: eine Aussage, die soviel besagt wie "Dieser Satz nicht beweisbar" - eine Modifikation des antiken Lügner-Paradoxons: "Dieser Satz ist falsch". Damit bewies Gödel in der Arbeit mit dem lapidaren Titel "Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme", daß es kein logisches System gibt, das zugleich vollständig und widerspruchsfrei ist. Da Widersprüche der Tod jedes logischen Systems sind, bleibt als kleineres Übel die Unvollständigkeit: In jeder Theorie, die in einem logischen System ausgedrückt werden kann, gibt es daher wahre Aussagen, die nicht beweisbar sind - ein Tiefschlag für die damalige Zahlentheorie: "Damit bewies Gödel, daß die seit Euklid üblichen mathematischen Beweismethoden nicht ausreichen, um alle wahren Aussagen über natürliche Zahlen zu finden", schreibt Biograf Dawson.

In Gödels Unvollständigkeitssatz kommt eine prinzipielle Grenze der menschlichen Erkenntnis zum Ausdruck: Wie sehr wir auch immer forschen, stets wird es Gesetzmäßigkeiten geben, die im gegebenen Rahmen nicht beweisbar sind. Damit ähnelt der Unvollständigkeitssatz einem Ergebnis der Quantenphysik, das der menschlichen Erkenntnis ebenfalls eine Grenze setzt: der 1927 formulierten "Heisenbergschen Unschärferelation", die auf prinzipielle Beschränkungen bei der Beobachtung von Elementarteilchen verweist. Gödel wollte von der Unschärfe in der Physik allerdings nichts wissen - ebensowenig sah er die Möglichkeiten des menschlichen Geistes durch seinen Unvollständigkeitssatz gefährdet.

In seiner Wiener Zeit erzielte Gödel seine bedeutendsten Resultate. Dort lernte er auch seine spätere Frau Adele kennen, eine um sechs Jahre ältere Nachtklubtänzerin, die ein Bekannter als "Wiener Wäschermädeltyp" beschrieb: "wortreich, ungebildet, resolut". Derselbe Bekannte meinte jedoch auch: "Sie hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet." Denn in Wien bildete sich auch jenes Wahnsystem heraus, aus dem sich Gödel nie mehr befreien konnte: logisch einwandfrei, aber mit bizarren Axiomen. Gödel litt an Hypochondrie und massiver Paranoia. Er fürchtete unter anderem, vergiftet zu werden - damit er regelmäßig Nahrung zu sich nahm, mußte ihm Adele als Vorkosterin dienen. Später ernährte er sich nur noch nach einem strengen, selbstentworfenen Diätplan: Pro Tag ein Achtel Butter, drei Eier, Milch, Kartoffelpüree, Babynahrung und eine Orange. Der chronisch untergewichtige Gödel war auch davon überzeugt, daß Heizungen und Kühlschränke giftige Gase absonderten. In seinem Nachlaß wurden fünf Ordner mit peniblen Aufzeichnungen über seine Verdauung und seinen Medikamentengebrauch gefunden. Ohne seine Frau, die sich um ihn sorgte und ihn vor allen vermeintlichen Gefahren abschirmte, wäre Gödel früher oder später in einer Nervenheilanstalt gelandet.

"Einen Rekord von Unbekümmertheit an der Schwelle welthistorischer Ereignisse", bescheinigte ihm ein Kollege. Gödel schien nicht wahrzunehmen, wie radikal es mit dem politischen Klima im Österreich der Zwischenkriegszeit bergab ging. In seiner Korrespondenz mit amerikanischen Kollegen erwähnte er den Anschluß mit keinem Wort. Während des Studienjahrs 1938/39 hielt er sich zum zweiten Mal in den USA auf. Als er dort im Oktober 1938 einen aus Nazi-Deutschland geflohenen jüdischen Kollegen traf, fragte er ihn allen Ernstes: "Und was bringt sie nach Amerika?" Kein Wunder, daß Gödel so unklug war, 1939 nach Wien zurückzukehren.

Hier war seine Lehrbefugnis erloschen und die nationalsozialistischen Herren der Universität machten keine Anstalten, diese zu erneuern. In die USA konnte er vorerst nicht zurück: Zwar wurden Wissenschaftler von den Einwanderungsgesetzen begünstigt, doch der für Visa zuständige US-Sektionschef legte diese äußerst restriktiv aus. Mit Ausbruch des zweiten Weltkrieges wurde Gödels Situation schließlich bedrohlich: keine Arbeitsmöglichkeit und die ständige Bedrohung, in die Wehrmacht eingezogen zu werden. Einmal wurde Gödel von einer Gruppe Nazis auf offener Straße attackiert. Nach Interventionen amerikanischer Wissenschaftler im US-Außenministerium und der deutschen Gesandtschaft in Washington schließlich durfte Gödel über Rußland und Japan in die USA ausreisen - zuerst mit der Transsibirischen Eisenbahn und dann mit dem Schiff.

Noch vor seiner Flucht hatte er sich der Mengenlehre zugewandt: Er bewies, daß zwei damals umstrittene Annahmen der Mengenlehre, das "Auswahlaxiom" und die "Kontinuumshypothese", mit den Axiomen der Mengenlehre vereinbar sind. In der Emigration schließlich, als Mitglied des "Institute for Advanced Study", einem Olymp der Wissenschaft, wandte sich Gödel der Relativitätstheorie und der Philosophie zu. 1949, ein Jahr nachdem er die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, bewies er, daß die Einsteinschen Gleichungen ein rotierendes Universum zulassen, in dem Reisen in die Vergangenheit theoretisch möglich sind. Gödel wurde auch zu einem einflußreichen Verfechter des mathematischen Platonismus: Das heißt er war der Ansicht, daß die Gesetze der Logik und der Mathematik Naturgesetze und daß Zahlen, Mengen und Funktionen ebenso real wie physikalische Körper seien. (Nach der heute gängigen Meinung sind Mathematik und Logik hingegen menschliche Erfindungen, die auf Konvention beruhen.)

In den fünfziger Jahren wurde der schrullige Professor zur lebenden Legende. Die mathematische Logik wurde großjährig und Gödel war einer der Klassiker dieser Disziplin. Er wurde mit Ehrungen und Ehrendoktoraten überhäuft. Doch psychisch ging es mit ihm bergab: 1951 starb er fast an einem Zwölffingerdarmgeschwür, das er wegen seines Mißtrauens gegen Ärzte bis zuletzt ignoriert hatte. Ab 1955 zog sich Gödel immer mehr in seine wahnhafte Welt zurück. Er magerte so sehr ab, daß er nur noch aus Haut und Knochen bestand. Noch zwanzig Jahre hielt ihn seine Frau am Leben, doch 1977 mußte Adele für ein halbes Jahr ins Krankenhaus. Allein wurde Gödel mit seinem wachsenden Verfolgungswahn nicht mehr fertig. Besessen von der Angst, vergiftet zu werden, hungerte er sich zu Tode. Am 14. Jänner 1978 starb er an Unterernährung. "Wie ein Geschöpf in einer Zeitschleife eines Gödelschen Universums, das seine eigene Vergangenheit wiederholen muß, konnte er seinem Schicksal nicht entrinnen", fabuliert Dawson.

Obwohl Gödel im Herzen immer Österreicher geblieben ist - der Operettenfan ließ im Garten seines Hauses einen Miniaturheurigen aufbauen - hat er seiner alten Heimat nie verziehen, wie ihm 1938/39 mitgespielt wurde. Er verließ die USA nie wieder. 1966 lehnte er eine Ehrenprofessur der Universität Wien ebenso ab wie die Mitgliedschaft in der österreichischen Akademie der Wissenschaften. Auch den Versuch, ihm das österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft uns Kunst zu verleihen, blockte er ab. Der Universität Wien gelang es schließlich doch noch, Gödel ein Ehrendoktorat aufzuzwingen - posthum.

Kurt Gödel: Leben und Werk. Von Johm W. Dawson jr. Springer-Verlag, Wien 1999. 294 Seiten, brosch., öS 625,-/e 45,42

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