An den Lebensrändern

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Diskussionen in Italien und Großbritannien zeigen einmal mehr, dass die Kirche mit ihren Positionen scheinbar auf verlorenem Posten kämpft. Aber kann sie deswegen ihre Ansprüche relativieren?

Einmal mehr wird in zwei europäischen Ländern heftig über Lebensfragen im Wortsinn debattiert: in Italien über die Zulassung der Abtreibungspille, in Großbritannien über Sterbehilfe. Einmal mehr geht es um die sogenannten „Lebensränder“, also um das Leben in seinen per se sensibelsten Phasen, Anfang und Ende.

Beiden eignet eine letzte Unbestimmbarkeit, was zum einen ethischen Diskussionen ein weites Feld eröffnet, zum anderen aber dem Anspruch des modernen Menschen auf Verfüg- und Berechenbarkeit widerspricht und solcherart eine Kränkung seines Selbstbilds bedeutet. Und in beiden Fällen befindet sich die katholische Kirche mit ihren Positionen im klaren Widerspruch zum liberalen Mainstream der öffentlichen und veröffentlichten Meinung. Ja, man könnte anhand dieser Themen geradezu exemplarisch die Dissonanz zwischen der römischen Lehre und dem habituellen Konsens moderner Gesellschaften aufzeigen, während sich die katholische Sicht in anderen Bereichen wie etwa dem Sozialen als zumindest anschlussfähig an diesen Konsens erweist.

„Riss in unserer Zivilisation“

Gerade dort aber, wo die Kirche von solchen Lebensfragen redet (von Glaubensfragen im engeren Sinn einmal abgesehen), stößt sie auf Widerspruch. „Die Menschenwürde muss von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod geschützt werden“, formulierte etwa Bischof Rino Fisichella, der Präsident der päpstlichen Akademie für das Leben, im Interview mit dem Corriere della Sera zur Frage des Einsatzes der Pille RU 486. Und der Vorsitzende der italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Angelo Bagnasco, sprach von einem „Riss in unserer Zivilisation“ und appellierte an die Ärzte, die Pille nicht zu verschreiben.

Nun stellt Italien hinsichtlich der Stellung der katholischen Kirche und ihrer Verflechtung mit der Politik gewiss einen historisch bedingten Sonderfall dar. Den Äußerungen von Vatikan und Bischofskonferenz kommt in der öffentlichen Wahrnehmung, kritisch oder affirmativ, besondere Bedeutung zu. Dadurch wird aber vielleicht die Grundkonstellation, die auch anderswo zum Tragen kommt, nur deutlicher sichtbar: Die Kirche kämpft in für sie vitalen Fragen anscheinend nur noch Rückzugsgefechte, mag sie damit für manche auch als Fels in der Brandung dastehen.

Die in Großbritannien neu aufgeflammte Diskussion um Sterbehilfe passt ins Bild: Es kann kaum ein Zweifel bestehen, dass der Vorstoß einer MS-Patientin für mehr Klarheit in der Sache zu einer Liberalisierung führen wird, wie das in vielen Ländern ja schon geschehen ist und in fast allen periodisch wiederkehrend diskutiert wird. Die Tendenz ist jedenfalls eindeutig.

Kluge, auch durchaus der Kirche nahestehende Beobachter meinen, dass das, was wir jetzt erleben, erst der Anfang sei – nämlich der Anfang des Verlustes von Kontrolle über Inhalte: Was die Kirche (und andere Institutionen) zur Zeit schmerzlich als Abschmelzen ihrer Autorität, als dramatischen Rückgang ihrer Fähigkeit, Anhänger an sich zu binden, erfahren, werde künftig heute nicht abschätzbare Dimensionen annehmen.

Kein „Ende der Geschichte“

Und wenn es denn so wäre, wofür ja – beispielsweise Stichwort Internet – einiges spricht: Was soll die Kirche daraus lernen? Sie kann und wird deswegen gewiss nicht darauf verzichten, verbindliche Inhalte zu formulieren. Sie wird dabei aber danach trachten müssen, den fatalen Eindruck des „Rückzugsgefechts“ umzukehren. Von der Sache her wäre das ja nicht unmöglich. Denn nur wer ein sehr simplizistisches Geschichtsverständnis hat, glaubt, dass Liberalisierung und Deregulierung (auch im moralischen Sinn) sich einfach linear fortsetzen, bis wir alle eines Tages am „Ende der Geschichte“ angekommen wären. Möglicherweise ist, was heute als hoffnungslos reaktionär gilt, morgen zukunftsweisend – freilich auch nicht im Sinn einer Wiederkehr der Geschichte. Vordringlich wäre jedenfalls eine Tugend, die der Kirche nicht ganz fremd sein sollte: Gelassenheit.

* rudolf.mitloehner@furche.at

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