An der Grenze des Tanzbaren

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Der Skandal bleibt unvergessen, der am Abend des 29. Mai 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées über der Uraufführung von Igor Strawinskis Ballettmusik "Le sacre du printemps" hereinbrach. Das Publikum liebte die Ballets Russes, hatte mit den früheren Stücken Strawinskis, "L'Oiseau de Feu"(Der Feuervogel) und "Petruschka" ein gutes Auskommen, wehrte sich nun aber schreiend, pfeifend und boxend gegen die Wildheit der Rhythmen, die Polytonalität und das neue ästhetische Zeitalter, das ihm da eingehämmert wurde.

Kein Choreograf bringt "Sacre" aus dem Hinterkopf. Jochen Ulrich hatte 1999 am Tiroler Landestheater Diaghilev, dem Impresario und "Offenbarer" der Ballets Russes, einen Tanzabend gewidmet. Jetzt nahm der gegenwärtige Leiter der Innsbrucker Companie, Enrique Gasa Valga, die Herausforderung an. Und wollte alles. "Petruschka" und "Le sacre du printemps" in eigener Choreografie, den "Feuervogel" von dem Schweizer Pierre Wyss, Bühne: Helfried Lauckner, Kostüme: Andrea Kuprian. Das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck ist unter Chefdirigenten Francesco Angelico auf der Hinterbühne live dabei.

Kraftvoll, turnerisch

Die "Petruschka"-Musik wird von Serena Stella und John Groos in der Fassung für zwei Klaviere geschärft, das pointiert die Aufführung. Gasa Valga bleibt in der Jahrmarktburleske, temporeich, witzig, reduziert. Die Ballerina (Lara Brandi), die beiden männlichen Marionetten, Petruschka und der Mohr (Jeshua Costa, Léo Maindron -Paolo Giglio ist der Gaukler), rivalisieren in einer kraftvollen, turnerisch dominierten Tanzsprache.

Ihr Aktionsradius beschränkt sich auf ein bekletterbares Gestänge-Geviert. Petruschka entwickelt akrobatisch eine Schläue, die ihm, dem Verlierer, zuletzt den Sieg sichert. Ein humorvolles Gustostück, Körper-und getanztes Kammerspiel.

Pierre Wyss holt den "Feuervogel" aus der Märchenwelt. Der böse Zauberer, der Prinzessinnen gefangen hält, wird zum Tyrannen, in dessen Staat die Frauen, mit Burka-Anspielung in bodenlange schwarze Gewänder gehüllt, bis zur Misshandlung unterdrückt sind. Die einzige männliche Lichtgestalt wird getötet. Eine der Frauen widersetzt sich über alle Grausamkeit hinweg. Die ausdruckstarke Marie Stockhausen tanzt diesen Feuervogel als Symbol für den "Geist der Revolution". Kompromisslose Männerhärte schlägt den erwachenden Mut der Frauen zur Befreiung, schlägt ihre lyrischen Sehnsuchtsbewegungen nieder. Aber immer wird ein neuer Geist der Revolution erwachen. Starke Botschaft und dennoch eine plakative Regie an der Grenze des Tanzbaren.

Den Traum von Freiheit, Individualität und Liebe nimmt Gasa Valga in anderer Form in "Le sacre du printemps", das Frühlingsopfer, hinein. Aus überdimensionalen Pelzen schälen sich Frauen ins Leben, Männer seilen sich von hohen felsschwarzen Schrägen spektakulär ab. Auf der verengten Bühne drängen sich in wehendem Chaos die 16 Tänzer und Tänzerinnen, die diesen Abend bestreiten. Die Frauen stampfen als erste den scharfen Rhythmus ein, Gasa Valga führt die Tänzer in der archaischen Wucht und Komplexität der Musik zwingend bis zur Synchronität. Struktur und tänzerischen Ausdruckswillen bringt das weiße Paar, Emotionalität ist leichter zu tanzen als Gefühlskälte: Von Eiswürfeln wird das Opfer (großartig: Mohana Rapin) unter den Pelzen begraben.

Gasa Valgas "Sacre" bleibt hinter seinen Themenabenden (Trakl, Faust, Dante u. a.), die die Innsbrucker Compagnie bekannt machten, zurück, die Tänzer und Tänzerinnen aber haben in den drei Strawinski-Dimensionen Gelegenheit, ihre Klasse auszuspielen. Dem Orchester ist das trotz glänzender Leistungen nicht ganz vergönnt: Im Bühnenhintergrund geht viel verloren, die Bruitismen des "Sacre" werden, bis sie beim Hörer ankommen, weichgezeichnet.

Strawinski. 3D Tiroler Landestheater, 2. u. 3. Mai, 24. Juni

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