Anarchist der Antithese

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Alfred Polgar, der Meister der kleinen Form. Ein Porträt zum 50. Todestag.

Als "feine, stille, silbergraue Maus" skizzierte Franz Blei den Feuilletonisten Alfred Polgar im "Großen Bestiarium der modernen Literatur". Diese "Maus" sei dann "besonders artig anzusehen, wenn sie - was das kluge Tier mit gutgespielter Unbewußtheit tut - über die verstimmte Leier der Zeit läuft". Treffend warnte Blei davor, Polgar zu unterschätzen, zumal seine Äußerungen - "wenn auch in sehr fein verteiltem und abgeschwächten Zustande" - den Sprengstoff Ekrasit enthielten: "Aus winzigen Vornehmheiten und Bösheiten [...] baut das Polgar Viennensis aparte Gedankennester, die man wegen ihrer seltsamen Zusammensetzung aus Fragilität und Dauer Filigranitkunstwerke nennt."

Scherz, Satire und Ironie

Tatsächlich war der "Spötter und Epikuräer" Polgar höchst sensibel gegenüber allen Schräglagen menschlicher Existenz. Sozial engagiert und sprachgewandt verbarg er sein kritisches Potenzial hinter Scherz, Satire und Ironie. Seine Theaterkritiken und Skizzen, die er unter anderem für die "Wiener Allgemeine Zeitung", die "Schaubühne" oder das "Berliner Tageblatt" verfasste, bilden eine wohldosierte Mischung aus Witzigkeit und Aggressivität. Dabei blieb er stets ein subtiler Kritiker, der selten schwere Geschütze auffuhr, sondern seine Spitzen lieber in Nebenbemerkungen einflocht. Oft dosierte er seine Giftspritzen so fein, dass "erst beim letzten Tropfen das Bittere" herauszuschmecken war. Boshaft-freundlich führte er konsequent den Kampf gegen die hohle Phrase, weshalb er gerne gemeinsam mit Erich Kästner und Kurt Tucholsky aufgrund der mangelnden Ehrfurcht gegenüber jeglicher Autorität und seines Hangs zur Blasphemie in die "Schmutzsonderklasse" eingeordnet wurde.

Leben zu kurz für langes Buch

Alfred Polgar gilt als "Meister der kleinen Form", wozu auch sein "Quasi-Vorwort" zum ersten Skizzenband "An den Rand geschrieben" maßgeblich beitrug. Darin meinte er, das Leben sei "zu kurz für lange Literatur, zu flüchtig für verweilendes Schildern und Betrachten, zu psychopatisch für Psychologie, zu romanhaft für Romane, zu rasch verfallen der Gärung und Zersetzung, als daß es sich in langen und breiten Büchern lang und breit bewahren ließe".

Zu den bekanntesten Texten zählt der gemeinsam mit Egon Friedell für das Kabarett Fledermaus verfasste Goethe-Sketch, in dem der große Klassiker wieder aufersteht und anstelle eines Schülers zur Maturaprüfung über sich selbst antritt. Wie Goethe selbst die kleinlichen und allzu detaillierten (und auch zu respektlos intimen) Fragen des gestrengen Lehrers nicht beantworten kann und die Matura nicht besteht, nimmt auf satirische Weise Torbergs "Schüler Gerber" vorweg.

Ungeschminkt und selbstkritisch fiel die "Theorie des Cafés Central" aus. In seinen jungen Jahren führte Polgar eine typische Kaffeehausexistenz und bewegte sich im Kreis um Peter Altenberg. Das für die Künstler des Fin de Siècle so bedeutende Café Central verortete er "unterm Wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit". Besiedelt werde es von Personen, "deren Menschenfeindschaft so heftig ist wie ihr Verlangen nach Menschen, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen. [...] Es ist ein rechtes Asyl für Menschen, die die Zeit totschlagen müssen, um von ihr nicht totgeschlagen zu werden."

Meridian der Einsamkeit

An Polgar faszinierte die Zeitgenossen dessen spielerisch-virtuose Sprachbeherrschung. Joseph Roth betrachtete sich als seinen Schüler. Eine der schillernden Frauen der Wiener Zwischenkriegszeit, die Romanautorin Gina Kaus, charakterisierte ihn als "glänzenden Schriftsteller und bezaubernden Mann, dessen geistige Überlegenheit alle stillschweigend anerkannten". Hermann Broch wiederum attestierte ihm eine "Mischung aus blitzartiger Weitsicht, von Witz, von Sprachhingegebenheit, von schmerzlicher Heiterkeit, ethischer Festigkeit und humanster Haltung."

Er war ein unbestechlicher Opponent gegen jeglichen Fanatismus, erklärte nur die einzige "idée fixe" zu haben, dass es "nur eine idée flexible" gebe. So gehörte er bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch zu jenen wenigen, die sich dezidiert kritisch gegen diesen äußerten. Seinen Kriegsdienst absolvierte er neben Rilke, Felix Salten oder Stefan Zweig in der Literarischen Gruppe des Kriegsarchivs, wo er immer wieder seinen Pazifismus zum Ausdruck brachte. Sein Biograf Ulrich Weinzierl stuft ihn zwar nicht als "Helden des Widerstands" ein, weist aber darauf hin, dass Polgar jede pflichtgemäße patriotische Äußerung mit einer "zersetzenden" quittiert habe.

Spürbar wird das Ekrasit seiner Worte auch im Kommentar zur Verurteilung Carl von Ossietzkys wegen einer in der "Weltbühne" publizierten Kritik an den Machenschaften der deutschen Reichswehr. Indem Polgar vorrechnete, welche Straftaten Ossietzky für die eineinhalbjährige Haftstrafe begehen hätte können (die Schändung von ein paar minderjährigen Mädchen, mehrere Einbruchsdiebstähle oder die Unterschlagung größerer Summen), zeigte er die immer deutlicher sichtbar werdende unangemessene staatliche Gewalt auf.

Nach der Machtergreifung Hitlers entging er der Verhaftung nur knapp durch die rechtzeitige Abreise aus Berlin. Fortan musste der "ungekrönte König des Feuilletons", dessen Schreiben so sehr auf Tagesaktualität ausgerichtet war, sich darin üben, "ein Schnorrer zu sein und doch ein Gentlemen zu bleiben". Da das politische Klima nach der Ermordung von Dollfuß auch das Publizieren in Österreich für ihn immer schwieriger machte, führte ihn der Weg nach Zürich und Paris. Wie für so viele andere Flüchtlinge bildeten das "Prager Tageblatt", die Baseler "National-Zeitung" und die Schweizer Wochenschrift "Die Nation" spärliche Einnahmequellen. Einige Auswahlbände, Projekte zu einem Homer-Roman und zu einer Marlene-Dietrich-Biografie sowie der Film verhießen dem nun auch gesundheitlich Angegriffenen Aussicht auf materielle Absicherung. Nach Kriegsausbruch zählte er dank seines Alters und der schützenden Hand des Schriftstellers und Propagandaministers Jean Giraudoux zu den wenigen Emigranten, die einer Kasernierung in französischen Anhaltelagern entgingen. Kurz vor dem Einmarsch der Wehrmacht flüchtete er mit seiner Frau Elise aus Paris, und nachdem die Aufenthaltsgenehmigung abzulaufen drohte und er kein Ausreisevisum erhielt, entkam er mithilfe des Emergency Rescue Committees über die Pyrenäengrenze nach Lissabon, um dort das rettende Schiff in die usa zu erreichen. In Kalifornien verfasste er für hundert Dollar die Woche Filmmanuskripte für Metro Goldwyn Mayer, fühlte sich aber in Los Angeles ebenso wenig heimisch wie ab 1943 in New York. Zu Kriegsende erwies er sich als scharfer Kritiker allzu schnellen Verzeihens, forderte Sanktionen für ehemalige Nazis.

Ambivalente Rückkehr

Die lang ersehnte Rückkehr nach Europa 1949 empfand er ambivalent. Einerseits wurde er in Wien als einer der wenigen Remigranten von den Medien begrüßt, Viktor Matejka schlug ihn gar für die Ernennung zum Ehrenbürger vor, andererseits war seine ältere Schwester deportiert worden. Hinter Freundlichkeit fühlte er "die Tücke" lauern. Die ihm widerfahrenen Huldigungen quittierte er mit dem unprätentiösen Kommentar: "In Österreich ist ein empfindlicher Mangel an zeitgenössischen Klassikern ausgebrochen, und da mußte ich eben aushelfen."

Bis zu seinem Tod am 24. April 1955 in einem Züricher Hotel blieb Polgar ein "leiser Anarchist", der niemals Zwang und Ungerechtigkeit akzeptierte, der stets renitent-revolutionär alles in Frage stellte, mit Ausnahme des Rechts auf größtmögliche Freiheit und persönliches Glück des Individuums.

Recht auf Glück

Ebenso konsequent wie er politisch-gesellschaftliche Missstände anprangerte, machte sich der am 17. Oktober 1873 geborenen Polgar zeitlebens einen Spaß daraus, sein Geburtsjahr zu verschieben. Je älter er wurde, desto beharrlicher machte er sich zwei Jahre jünger. Auf diese Weise vereitelte er nicht nur die geplanten pompösen Feierlichkeiten zu seinem 70. Geburtstag, sondern es hätte ihn vermutlich auch sehr amüsiert, dass noch 1975 sein angeblich 100. Geburtstag feierlich begangen wurde.

Die Autorin ist Germanistin an der Universität Graz.

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