Ans Bein gepinkelt?

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"Der Antifa-Komplex" von Peter Sichrovsky: Geschichtslügen und verfälschte Zitate.

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"Der Antifa-Komplex" von Peter Sichrovsky: Geschichtslügen und verfälschte Zitate.

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Die Furche-Leser haben Anspruch auf eine Ergänzung. Ich habe das Buch "Der Antifa-Komplex" von Peter Sichrovsky zwar auch in der Furche (Nr. 52/53 1998) negativ kritisiert, doch greift mich Sichrovsky im "Profil" Nr. 10 vom 9. März massiv an. Ich hätte ihm "ans Bein gepinkelt". Er konstruiert einen Widerspruch zwischen meiner Furche-Kritik, in der ich auch positive Bemerkungen über sein Buch gemacht habe, und einer zweiten, die ich als Gastautor für "Die Gemeinde", die Monatszeitschrift der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, schrieb.

Das "Profil" bringt meine Antwort diese Woche, aber auch die Furche-Leser sollen erfahren, was ich ihm vorwerfe. Tatsächlich bin ich einigem, was mir beim Lesen des Buches seltsam vorkam, nach dem Erscheinen meiner Furche-Kritik weiter nachgegangen. Was ich in der Furche noch als "lockeren Umgang mit Fakten und Begriffen" bezeichnete, erwies sich bei der historischen Recherche als Fall von Geschichtsklitterung, Zitatenverfälschung und Geschichtslüge.

Er schreibt zum Beispiel (Seite 32): "Bei den Wahlen zum Reichstag im Juli 1932 und im Januar 1933 wählten mehr Arbeiter die Nationalsozialisten als die Sozialdemokraten und Kommunisten gemeinsam." Die Reichstagswahl vom Jänner 1933 hat Peter Sichrovsky glatt erfunden. Im Jänner 1933 gab es nämlich keine. Hitlers "Machtergreifung" am 30. Jänner kam dadurch zustande, daß Reichspräsident Hindenburg ihn zwei Tage nach dem Rücktritt von Reichskanzler Schleicher mit der Bildung einer neuen Regierung betraute. Sichrovskys Lesern am rechten Rand unserer Gesellschaft wird es aber gefallen, wenn die "Machtergreifung" als Ergebnis freier Wahlen dargestellt wird.

Am 31. Juli 1932 machten die Nazis einen Sprung nach vorn und errangen 230 Mandate, die SPD 133 und die KPD 89 Mandate, zusammen also 222 - um acht weniger als die Nazis. Spekuliert Sichrovsky mit der Unbildung seiner neuen Freunde? Er muß doch wissen, wieviele bürgerliche und kleinbürgerliche Wähler Hitler hatte. Haben die ihn plötzlich nicht mehr gewählt? Er stellt seinen Opportunismus aber auch unter Beweis, indem er die Reichstagswahlen vom 6. November 1932 gleich ganz unterschlägt. Da erlitt die NSDAP nämlich einen schweren Rückschlag, trotz der Weltwirtschaftskrise. Die öffentliche Meinung sah Hitler nicht mehr als Problem an - der greise Hindenburg machte Hitler zum Kanzler. Das paßt aber ganz und gar nicht in Sichrovsky Geschichtsbild - oder das, welches er bedient.

Selbst bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933, eine Woche nach dem Reichstagsbrand, als die Verhaftung von Nazigegnern und der Terror bereits eingesetzt hatten, bekam Hitler keine absolute Mehrheit, sondern nur 43,9 Prozent der Stimmen. 30,6 Prozent wählten selbst jetzt noch SPD oder KPD. Aber auch die regionalen Stimmenverteilungen widerlegen Sichrovsky, der alle Schuld am Aufstieg der Nazis den Linksparteien zuweist: "Ein Geflecht von Fehleinschätzungen, irrealen Vorstellungen und falschen politischen Analysen auf seiten der Linken löste eine Katastrophe aus und führte Europa an den Rand des Abgrunds." (Seite 46) Beim gar nicht linken Joachim Fest lesen wir es anders: "Viel stärker war der Stimmenanteil für die Hitlerpartei gerade in den ländlichen Gebieten, die unter den Folgen der Krise nicht annähernd so schwer zu leiden hatten wie bspw. das Ruhrgebiet oder auch Berlin, wo der Stimmenanteil der Nationalsozialisten mit nicht einmal 25 Prozent nur nahezu halb so groß war wie etwa in Schleswig-Holstein." (Hitler - Eine Biographie", Berlin 1973) Noch viel ärger sind aber die Verfälschungen der Geschichte des Zionismus. Man kann Israel mit vielen guten oder wenigen guten Gründen kritisieren, und wenn er im "Profil" schreibt "Juden müssen heute mit der Realität leben lernen, daß es unter ihnen Kollaborateure und Sympathisanten der Nazis gab", wird sich darüber keiner aufregen. Im Buch schreibt er aber (Seite 118 f.): "Es gab den jüdischen Antifaschismus, der von den Zionisten allerdings wenig geschätzt wurde. Während Hunderte jüdische Widerstandskämpfer in Deutschland, in den Konzentrationslagern und den besetzten Ländern versuchten, anderen Juden zu helfen, oder als Soldaten auf der Seite der Alliierten kämpften, hatten die professionellen Zionisten nur ein Ziel: die Errichtung des jüdischen Staates, koste es, was es wolle. Die Juden, die mit der Waffe gegen den nationalsozialistischen Staat kämpften, genossen nicht das Vertrauen der Zionisten."

Dieser Absatz ist eine einzige Schweinerei. In Palästina meldeten sich zum Dienst in der britischen Armee 30.000 Juden, 80 Prozent davon bereits in der ersten Hälfte des Krieges. 700 fielen, 1.769 gerieten in Gefangenschaft, mehrere Tausend wurden verwundet und 323 ausgezeichnet oder in offiziellen Berichten lobend erwähnt. 5.000 dienten in der britischen Jewish Brigade. Sie genossen sehr wohl das Vertrauen der Zionisten. Chaim Weizmann, der Präsident der Zionistischen Weltorganisation, hatte der britischen Regierung sofort bei Kriegsausbruch die Unterstützung des jüdischen Volkes bei den Kriegsanstrengungen zugesagt. Zionisten aus Palästina sprangen mit dem Fallschirm hinter den deutschen Linien ab, zwölf wurden gefangen, sieben hingerichtet, darunter zwei Frauen. Natürlich unterschlägt Sichrovsky auch die wichtige Rolle der Zionisten bei der Organisation des jüdischen Widerstandes in den von den Deutschen besetzten Gebieten. Der Warschauer Ghettoaufstand im April und Mai 1943 war das Werk zionistischer Jugendorganisationen, Organisator und Kommandeur war der 24jährige Jugendführer der zionistischen Organisation Haschomer Hazair, Mordechai Anielewicz.

Sichrovsky verfälscht ein Gespräch zwischen Nahum Goldman und dem damaligen tschechischen Premierminister Edward Benes wenige Tage nach der Verkündung der Nürnberger Gesetze in Genf (Seite 118). Gleich im nächsten Absatz wird der verzweifelte Versuch von Rezsö Kasztner, ungarische Juden zu retten, in einen zionistischen Verrat uminterpretiert.

Sichrovskys Geschichtsfälschungen werden uns in den nächsten Jahren in der rechtslastigen Publizistik möglicherweise des öfteren begegnen. Ich beharre daher auf meinen Sätzen in der "Gemeinde", und wenn er wirklich meint, ich hätte ihm damit "ans Bein gepinkelt", bitte sehr: Er gibt dem heutigen, antizionistisch maskierten Antisemitismus Futter. Seine Geschichtsfälschung kann sehr wohl auf einer höheren Ebene eine ähnliche Funktion erhalten wie das "Leuchter-Gutachten", auf das sich die Holocaust-Leugner so gerne stützen. (Fred Leuchter erbrachte den "Nachweis", daß die Gaskammern gar keine Gaskammern waren.) Mit seinen Schuldzuweisungen bedient er den antilinken Reflex Haiders und seiner Mannen, das Bedürfnis, Schuld auf andere abzuwälzen sowie bei den Freiheitlichen vorhandene Ressentiments. Er spricht von den Zionisten, viele seiner Leser werden einfach "Juden" verstehen.

Sichrovsky erzeugt mit Zitaten aus den internen zionistischen Strategiedebatten vor Hitlers Machtantritt sowie mit Minderheitsmeinungen kunstvoll den Eindruck, sie seien repräsentativ für die Haltung der Zionisten schlechthin vor und vor allem während des Krieges. Aus Zeugnissen der wohl selbstverständlichen jüdischen Selbstzweifel und Selbstbefragungen nach dem Krieg, ob man für die Juden in Europa genug getan und nichts versäumt habe, macht er Belege für das angebliche "geheime Zusammenspiel" der Zionisten mit den Nazis.

Wie er Hitlers "Machtergreifung" als Ergebnis freier Wahlen darstellt, das Volk "geschlossen hinter Hitler" stehen, die Zionisten opportunistisch und feige erscheinen läßt und aus den eineinhalb Millionen Juden in den alliierten Armeen (einer davon: sein Vater) "Hunderte" macht: mit alledem redet er dem rechten Rand nach dem Mund.

Im Angriff auf mich im "Profil" begeht er übrigens gleich die nächste Zitatverfälschung: "Selbst Walter Grab, der aus Wien stammende Professor am Institut für Geschichte an der Universität Tel Aviv ... zitierte den Zionisten Hans Klee, der noch 1932 schrieb, daß die Zionisten sich der nationalsozialistischen ,Bewegung verwandt fühlen' könnten". Das Zitat geht aber in der Quelle folgendermaßen weiter: " ... wenn die Lehre vom ,nordischen Edelmenschen' Verpflichtung und Tugend zum Inhalt hätte, statt chauvinistische Anmaßung zu sein'". Ärger kann man den Sinn eines Satzes wohl nicht entstellen.

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