Apokalypse statt Recht
Man zog aus, um Recht gegen Unrecht zu verteidigen. Und jetzt? Apokalyptische Szenen im Kosovo, Mord und Vertreibung.
Man zog aus, um Recht gegen Unrecht zu verteidigen. Und jetzt? Apokalyptische Szenen im Kosovo, Mord und Vertreibung.
Das 20. Jahrhundert war - und ist noch - von apokalyptischen Szenarien in Europa geprägt: Untätig ließen die Öffentlichkeit und die jeweils verantwortlichen politischen Kreise den Völkermord an den Armeniern, an den Kurden, an den Juden, an den Bosniern und jetzt noch in letzter Minute an den Albanern im serbischen Kosovo geschehen. Dazwischen gab es Flüchtlingsströme aus diversen Kriegs- und anderen Gebieten, von Finnland bis Albanien, ethnische Säuberungen durch Massenumsiedlungen in der Folge der Balkankriege zu Beginn des Jahrhunderts bis zum dritten Balkankrieg in Bosnien in seinem letzten Jahrzehnt.
Wieso "untätig" im Fall Kosovo? Militärisches Eingreifen in einen Konflikt, nachdem die politischen Methoden versagt haben, kann, wie in diesem tragischen Fall, unvermeidlich sein, ist aber in sich keine Lösung des betreffenden Konflikts. Wann aber wurde der Kosovo als Konfliktfall von den europäischen Politikern erkannt? Erst als die UCK (die Kosovo-Befreiungsarmee) in Erscheinung trat. Auch dieses militärische Eingreifen war die Folge des totalen Versagens gewaltfreier Strategien, wie sie Ibrahim Rugova, der gewählte Präsident der Kosovo-Albaner (derzeit im Kosovo untergetaucht, um sein Leben zu retten), seit 1990 konsequent vertrat - im In- und im Ausland. Ob er, der zweifellos ein friedliebender Mensch und kein professioneller Politiker ist, die Situation seines Landes richtig, nämlich in jeder Hinsicht zutiefst dramatisch, dargestellt hat, wenn er von den Mächtigen des Westens freundlich empfangen wurde, ist beinahe irrelevant, denn man hörte ihm nicht zu. Und nahm auf diese Weise die brutale Vorgangsweise der Besatzungsmacht aus Serbien nicht zur Kenntnis: einer Macht, die mit unglaublichem Zynismus ein Apartheidsystem praktizierte, das serbische Kinder von albanischen Kindern trennte, das Schülern und Lehrern den physischen Zugang zu Schulen und Universität mit Brachialgewalt verweigerte, das die albanische Sprache der Mehrheitsbevölkerung in dieser Region verbannte (aus dem alltäglichen Leben in der Verwaltung, in den Krankenhäusern, in den Medien - mit Ausnahme von Übersetzungen aus dem Serbischen aus Belgrader Informationssendungen in Radio und TV), das Arbeiter und Angestellte an die Luft setzte, wenn sie nicht die Oberhoheit der Republik Serbien über Kosovo schriftlich anerkannten, das jeden albanischen Bürger ohne Unterschied zu Freiwild machte, in dem die Polizei jeden anhalten, prügeln, auf das Revier zu "Informationsgesprächen", die zur physischen und psychischen Tortur wurden, bestellen durfte, ohne sich irgend jemandem gegenüber rechtfertigen zu müssen. Alle diese Maßnahmen hatten ein gemeinsames Ziel: die albanische Bevölkerung davon zu überzeugen, daß sie keine Zukunft habe im Kosovo, daß sie die Heimat verlassen müsse.
Dem westeuropäischen Ausland waren alle die hier genannten und noch andere Verbrechen gegen Menschen- und Völkerrecht - die Albaner hatten 1990 einen Volksentscheid zugunsten einer eigenen Republik innerhalb Neu-Jugoslawiens abgehalten, ein eigenes Parlament, einen Präsidenten und eine (Exil-)Regierung im Kosovo gewählt - keinerlei Engagement wert. Schon damals begann Milosevi'c, seine westlichen Besucher an der Nase herumzuführen. Er ließ sie wissen, daß Serbien zu allen Verhandlungen mit den Albanern bereit sei - nur nicht über den Status dieser Region. Er log sie an, mit vielen Details zur Lage im Kosovo - und sie merkten es nicht.
Inzwischen mußten die "Deserteure" aus dem Kosovo in den europäischen Ländern erfahren, daß von behördlicher und politischer Seite für ihre Situation überhaupt kein Verständnis an den Tag gelegt wurde. Weil nicht jeder einzelne Albaner von der serbischen Polizei mißhandelt oder ermordet werde, weil es sich also um keine flächendeckende "ethnische Säuberung" handeln könne, weil auch der serbische Staat einen völkerrechtlichen Anspruch auf die wehrpflichtigen Bürger habe, wurde ihnen das Asylrecht verweigert. Ganz einfach. Und es sollte noch besser kommen: In Verhandlungen mit Belgrad vereinbarten die Innenminister der Zufluchtsländer und Serbiens, die jungen Albaner würden zurückgenommen werden - und dafür zahlte der Westen in die serbischen Staatskassen.
So blieben die jungen Albaner, denen zu Hause keine Existenz möglich war, in unseren Ländern als "Illegale", also ohne Wohn- und Arbeitsrecht. Unter diesen Voraussetzungen wurden verhältnismäßig wenige unter ihnen kriminell - aber, wie auch immer der individuelle Fall aussehen mag, jeder von ihnen mußte sich verraten und verkauft fühlen - und Agitatoren radikaler politischer Lösungen für die Albaner im Kosovo hatten leichtes Spiel. So entstand die Kosovo-albanische Befreiungsarmee UCK. Und so kam es zu jener Quantität des Blutvergießens in der Region, die allein ein internationales Eingreifen - auf politischer Ebene - völkerrechtlich motivieren kann.
Nur mühsam fanden Vertreter des geeinten Europa zusammen, um eine Initiative zu entfalten, die die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen beiden Parteien beenden sollte. Man muß vermutlich ein gelernter Diplomat sein, um verstehen zu können, warum die europäischen (und auch die amerikanischen) Verhandler in Belgrad bestrebt waren, die Interessen des Herrn Milosevi'c so wenig wie möglich zu verletzen. Er sollte ja einem wie auch immer gearteten Kompromißvorschlag zustimmen können. Weil Milosevi'c sich aber trotzig verhielt, wurden ihm im Laufe der Verhandlungen von verschiedenen Seiten viele Angebote gemacht, deren Attraktivität den Balkan-Despoten umstimmen sollte: von der Wiederaufnahme von Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank über die Wiederaufnahme in die OSZE bis hin zu dem Angebot einer Garantie dafür, daß er - dessen direkte Verantwortung für Tod und Tragödie von nun schon Millionen Einwohnern des ehemaligen Jugoslawien und seiner Nachfolgestaaten international nicht bestritten wird - nicht vor das Tribunal in Den Haag gestellt würde ...
Die europäischen Politiker haben seit dem Beginn des Zerfalls von Titos Jugoslawien unendlich viele Besuche in Belgrad absolviert. Warum haben sie nicht auf jeder der unzähligen Pressekonferenzen bei solchen Besuchen lauthals verkündet, daß es ihnen nicht um eine Politik gegen das serbische Volk gehe, sondern daß die Politik des Regimes Serbien in den allgemeinen Ruin führe und deshalb Reaktionen von außen unvermeidlich geworden seien? Warum versicherten sie nicht, daß der Westen großzügige wirtschaftliche Hilfe anlaufen lassen würde, wenn von Serbien ein Signal käme, den Kosovo-Konflikt konstruktiv verhandeln zu wollen. Damit hätte man auch die Opposition in Serbien gestärkt: ich meine nicht die "Opposition" im Parlament, die sich nur um Nuancen von den Parteien des Ehepaars Milosevi'c unterscheidet, sondern die, die unzufrieden ist mit Milosevi'cs Politik und ihren Folgen, nicht zuletzt im wirtschaftlichen Bereich.
Die militärische Intervention der NATO wurde notwendig, weil die politischen (falschen) Methoden gescheitert waren. Warum aber hat man nach den Verhandlungen in Rambouillet noch einmal eine dreiwöchige Pause eingelegt, um dann in Paris zur Unterzeichnung zu kommen? Es war doch sonnenklar, daß damit die serbische Seite ungebremst ihre strategischen Vorbereitungen im Kosovo treffen konnte, und jedes Kind konnte voraussehen, daß eine Bombardierung in Serbien unmittelbar die furchtbarsten Konsequenzen für die Albaner im Kosovo bedeuten würde. Wenn die strategischen Erklärungen der NATO, warum es nicht anders sein konnte, relevant sind, dann muß man doch die Frage stellen, ob jemals auf politischer Ebene mit dieser Intervention gedroht werden durfte!
Man zog aus, um Recht vor Unrecht zu schützen, um Opfer vor Tätern zu bewahren, um Flüchtlingsströme aus dem Kosovo in benachbarte und entferntere Länder zu bremsen, um humanitäre Hilfe zu sichern für alle, die ihrer bedürfen - und nicht zuletzt galt es, eine Destabilisierung des Balkan zu verhindern. Und was ist jetzt? Apokalyptische Szenen im Kosovo, totaler Völkermord an den Albanern, Entfesselung auch des individuellen Bösen in Gestalt serbischer paramilitärischer Einheiten, die wir aus Bosnien kennen, der Zusammenbruch humanitärer Hilfeleistungen überhaupt, die Gefährdung der fragilen politischen Balance in Mazedonien, in Albanien, in Bosnien - und die absolute Notwendigkeit von internationalen Bodentruppen im Kosovo. Nur eine komplette Besetzung der Region und die vollkommene Ausschaltung serbischen Einflusses kann noch etwas retten und dem Kosovo und denjenigen unter seinen Einwohnern, die diese momentane Hölle überlebt haben werden, eine Zukunft möglich machen.
Sollte es jedoch zu keiner Einigung über das unleugbare Risiko von Bodentruppen kommen, dann ist die Verantwortung Europas für den letzten Völkermord in diesem Jahrhundert schier untragbar.