Archaische Geschichte

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Das Lanzarote vor der Invasion der Touristen als Ort eines Romans von Rafael Arozarena.

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Das Lanzarote vor der Invasion der Touristen als Ort eines Romans von Rafael Arozarena.

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Lanzarote: baumlos, bedeckt mit roter, grauer, bläulich leuchtender Lava, Feuerberge, wo die Erde heiß ist, Weinstöcke, die sich in Erdmulden ducken vor dem ewigen Wind. Daß die Kunst auf der östlichsten Kanareninsel zu Hause ist, wissen die vielen Touristen inzwischen. Der Name des Architekten und Malers Cesar Manrique steht für Gebäude in wunderbarer Einheit mit der dramatischen Natur. Aber Literatur?

Da ist eine Entdeckung zu vermelden, die unbedingt in den Koffer gehört: "Mararia" von Rafael Arozarena. Der Autor wurde 1923 auf Teneriffa geboren, wo er noch heute lebt. An die deutsche Übersetzerin schrieb er: "Die Anregung zu dieser Erzählung erhielt ich in den vierziger Jahren, als ich acht Monate in Femes auf Lanzarote als Fernmeldetechniker arbeitete. Dort beeindruckte mich neben der Gestalt der Protagonistin vor allem die magische und einsame Landschaft, in der das kleine Dorf und seine Bewohner angesiedelt sind. Die Geschichte habe ich fast so geschrieben, wie sie mir erzählt wurde. Man erzählte mir Begebenheiten aus Mararias Leben, und ich machte Notizen in eine Kladde mit einem Umschlag aus Wachstuch ... Als ich nach Teneriffa zurückkehrte, fiel das Heft der Vergessenheit anheim. Zehn Jahre später entdeckte es ein Freund, ebenfalls Literat, und ermunterte mich, einen Roman daraus zu machen. Das Schreiben nahm nicht viel Zeit in Anspruch, denn ich brauchte den Geschichten, die ich in Femes aus dem Munde alter Leute gehört hatte, nur ihre literarische Form zu geben." Welche Untertreibung! In der Form liegt die Kunst. 1973 erschien das spanische Original, 1997 der Film und jetzt, in herrlich poetischer Übersetzung, die deutsche Fassung. Ins Englische, Italienische, Rumänische, Griechische war das Buch längst übertragen.

Die Zeit vor dem Touristeneinfall war archaisch. Die Menschen lebten von Landwirtschaft und Fischfang, waren Handwerker. Der junge Ich-Erzähler kommt auf die Insel. Warum? Der Leser erfährt es nicht. Der einzige Lastwagen bringt ihn ins Innere. Spanische Improvisationskunst ist für den Oldtimer nötig: "Der Hang ist steil, und ich habe Löcher im Tank. Ich will nicht einen Tropfen Benzin verlieren. Wir müssen verkehrt herum, im Rückwärtsgang, den Berg hinauffahren. So kann das Benzin nicht auslaufen." Ins Dorf Femes bringt er den Fremden nicht. Den Grund begreift der Ich-Erzähler erst später: Der Fahrer ist einer jener Männer, deren Schicksal mit dem Mararias verbunden ist. Sie geistert, groß, schwarz gekleidet, durch den Ort. Um sie geht es, das einst schönste, glühendste Mädchen der Insel.

Fünf Männer sind an ihr schuldig geworden: der Totengräber, ein Fischer, der Doktor, der Briefträger; der Priester hat den Kampf gegen das Feuer zwar gewonnen, doch um welchen Preis... Der Name der Frau ist eine Synthese aus "Mara", einer orientalischen Gottheit der Lust, und "Maria". Göttlich war einst ihre Schönheit, und jetzt? "In Femes gibt es keine Hähne, um den anbrechenden Morgen zu begrüßen, in Femes ist dies Sache der Hunde, denn Hunde gibt es dort, oh ja, ausgemergelte, schreckhafte Hunde, Hunde mit spitzen Ohren und mehr als vier Zecken am Hals ... Dort bellen sie wütend den Kirchturm an, der zu dieser Stunde schwarz wird und höher zu sein scheint als sonst. Die Hunde bellen und äugen nach oben, Richtung Kirchturm. Die Leute im Dorf erzählen, daß die Hunde zu dieser Stunde den Kirchturm mit Mararia, der Hexe verwechseln, denn auch sie ist von hoher, dunkler Gestalt, und ihre Augen leuchten wie die Bronze der kleinen Glocken. Danach verfällt alles wieder in Schweigen."

Dem Fremden bekennen die Männer ihre Leidenschaften, gestehen, daß sie vor vielen Jahren den Mann getötet haben, den Mararia heiraten wollte, daß ihr Kind durch die Unachtsamkeit eines von ihnen, der es behüten sollte, ertrunken ist, sie ringen um Worte, jeder in seinem Tonfall, als wollten sie durch das späte Reden begreifen, was sie getan haben. Mararia selbst kommt nie zu Wort, sie erscheint nur, eine aufrechte Gestalt, stumm, alt. Einer erkennt: "Keiner hat sie gewonnen. Wir waren alle Besiegte. Alle." Für sie war ein solches Weib der Teufel.

Am Schluß finden sie sich steifbeinig und altersgezeichnet auf dem Friedhof ein. Die Göttin von einst, von ihnen herabgezerrt, wird ins Grab gesenkt: "Das Leben ist Chaos, Unordnung. Ich meine, das wirklich gelebte, wirklich erlebte Leben. Dornen, Erschöpfung, Enttäuschung, Lügen, Gewalt, Überraschungen, Freuden, Schiffbruch, lichte Augenblicke, Schmerzen, Schönes, Unumgängliches, Blut, Lachen, Launen, Tod, Wasser, Feuer, Asche ... Und einiges mehr."

Mararia Roman von Rafael Arozarena, aus dem Spanischen von Gerta Neuroth, Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1998 237 Seiten, geb., öS 234,

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