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Akademie für angewandte Soziologie und Politik in Linz?

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Am 29. März wurde auf einer Kundgebung in Linz die Errichtung einer Sozialhochschule in der oberösterreichischen Landeshauptstadt diskutiert, in Kenntnis der Tatsache, daß Univ.-Prof. Dr. Kn oll im Sommer v. J. die Anregung zur Gründung einer solchen Hochschule vor maßgeblichen Persönlichkeiten in Linz gegeben hat, hat die „Furche" Prof. Knoll zu den nachstehenden Ausführungen, die das seinerzeitige Memorandum beinhalten, eingeladen. Die „Furche"

Die Umschichtung der modernen Gesellschaft erfordert zur Erforschung und Ueberwindung L ihrer arteigenen Spannungen einen neuen Hpchschultypus. Als Standort wäre eine Stadt zih wünschen, worin der Umschlag von der alten zur neuen, Gesellschaft exemplarisch ist. Für Oesterreich scheint Linz, die Hauptstadt von Oberösterreich, eines alten Bauern- und eines neuen Industrielandes, hierzu besonders geeignet. Daran ist iäuch die bäuerliche wie die städtische Bevölkerung dieses Bundeslandes in gleicher Weise inWpssiert. Diese wünscht:

1. die Weigerung des Bodenertrages, die Erhöhung der gewerblichen und industriellen Produktion, dm. Sicherung des Arbeitsplatzes, kurz, den Aufbau des Wohlstandes;

2. der Aufbau jener Sp a n n u n g e n und wie sie sich aus der raschen In- dustrialiiserung, der zunehmenden Motorisierung und dem Wachstum neuer Städte und Zentren linweigerlich ergeben;

3. den A U s b a u einer fachlichen Er- .ziehung' für die heranwachsende Generation (und für alle, die sich fortbilden wollen) zur Bewältigung. heuer Aufgaben und zur Ausfüllung -neuer Berufe.

An der Erfüllung aller dieser Bedürfnisse Arbeiten in (Öberösterreich viele einzelne und die Einrchtungen der Wirtschaft, der Arbeit, des Staates und der Kirche. Es fehlt aber in mer no c h eine hochschulartige, zentrale Bildungsanstalt, die, für das Land Oberosterreich .‘geschaffen, spezielle F o rc h un g und Schulung im Dienste dieses Bundeslands und seiner Städte und Gemeinden übernehmen Würde. Oberösterreich braucht aber eine solche 'Akademie für wirtschaftliche und sozilogische Fragen der Gegenwart, weil es in den letzten 20 Jahren, durch seine besondere Industrielle und bevölkerungsmäßige Entwicklung einen eigenen soziologischen Charakter ausgebildet hat, seine Probleme nicht abseits vom Schauplatz, sondern an O r t und Stelle durch eine bodenständige Wissen- sehaft behandelt sehen will.

So wird in vielen Dörfern und Gemeinden Grund und Boden immer -noch nicht so be- jbřheitet, daß die Arbeit auch den entsprechenden Gewinn abwirft. Das liegt vielfach an menschlichen Vorurteilen, an mangelndem Wissen, geringer fachlicher Aufgeschlossenheit menschlich wertvollster Teile der Bevölkerung.

Ferner sind für Management und Verwaltung in der Industrie Forschungen über Arbeit und Freizeit und die Art der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz von hoher Bedeutung, weil in der modernen Produktion die psychischen Spannungen immer mehr Aufmerksamkeit verlangen. Gerade für das Städtedreieck Linz-We'ls-Steyr, das im Brennpunkt bedeutender soziologischer Zuwanderungen und Umschichtungen steht, kann durch vorausschaüende Betriebs- und Industrieplanung so mancher Fehler vermieden werden, den das 19. Jahrhundert andernorts beging. Hierzu ist -aber die Forschung, welche die Akademie leisten kann, Voraussetzung.

Von großer Bedeutung sind auch die Untersuchungen über Lebensformen und Wertvorstel- lungen auf dem Gebiet des privaten Lebens in Familie und Freizeit, weil durch die Orientie rung auf Konsum und Wohlstand, wie sie mit großer Direktheit heute erfolgt, die Wünsche und Ansprüche hoch geworden sind; deswegen ist auch das Zusammenleben im engen und intimen Bereich der Familie neuartigen Spannungen ausgesetzt. Durch die Umstellung vom patriarchalischen System auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau (begünstigt vielfach durch die Berufstätigkeit der Frau in Fabrik und Büro) sind weitere Probleme entstanden, deren Behandlung um des inneren Glückes der Familie willen von Aerzten, Juristen, Priestern und Lehrern in gleicher Weise gefordert wird.

Auch benötigen Städtebauer und Architekten, die Leiter der Aemter von Stadt und Land, denen die Fragen der Fürsorge, der Gesundheit, des Wohnbaues, der Zu- und Abwanderung obliegen. Grurtdlagenforschung für ihre Entscheidungen. Solche Forschung liefert die Akademie, zu solcher Forschung bildet sie Fachkräfte heran, die im Rahmen ihrer jeweiligen Stellen sodann selbständig weiterwirken können oder zumindest für den Umgang und die Verwertung des modernen wissenschaftlichen Forschungsmaterials zusätzlich ausgebildet werden sollen.

Der Akademie obliegt ąuch die politische Wissenschaft und Erziehung. In Vorlesungen, Uebungen und Aussprachen sollen das gegenseitige Verständnis gefördert und die zum Wohle Oesterreichs seit zehn Jahren eingeschlagenen Wege und Verfahren ausgestaltet und verfestigt werden. Es soll ins öffentliche Bewußtsein der Gedanke gerückt werden, daß Politik kein „Freund-Feind-Verhältnis“, sondern ein Verhältnis guter Nachbarschaft ist.

In einer Zeit sozialer Umschichtung und schnellen Zuwachses immer neuer Mittel der industriellen Zivilisation sind der herkömmlichen Kenntnis über Mensch, Gruppe und Gesellschaft und die tieferen Ursachen ihres Vorstellens und Handelns enge Grenzen gesetzt. Ein auf Forschung beruhendes Ursachen-Wissen jedoch ist für die Institutionen der Erziehung und Bildung eine Voraussetzung ihrer Arbeit, und in der Hand von Erziehern ein wichtiger Baustein für ihr Wirken. So gewinnt die Akademie über ihre wirtschaftliche Nützlichkeit und psychologische Dienstbarkeit hinausreichend den Charakter eines kulturellen Zentrums.

Erhält die „Akademie für angewandte Soziologie und Politik“ eine solche Reichweite, so wird sie, inmitten der Schwierigkeiten und Gefährdungen der modernen Zivilisation, zum Instrument äußeren Wohlstandes und zum Wegweiser selbst für die schwierigsten Fragen der modernen Gesellschaft. Erhält das Bundesland Oberösterreich eine solche Akademie, so ist damit. a u f lange.Sicht hin Denken und Planen möglich, und das Land selbst stellt sich an die Spitze aller österreichischen Bundesländer in einer neuartigen Bemühung zur Förderung blühenden Lebens in der engeren Heimat.

Zweck der — später in eine Hochschule gleichen Namens auszubauenden — „A k a- demie für angewandte Soziologie und Politik in Linz“ wäre demnach:

Gegenwartsbezogene Erforschung und Pflege (Gestaltung) mitmenschlicher Beziehungen

I. in der Familie,

II. in Gewerbe und Industrie, III. in der Landwirtschaft und IV. i n d e r P o I i t i k.

Hieraus ergeben sich vier Abteilungen oder Seminare der Akademie mit folgenden Gegenständen:

I, Abteilung oder Seminar für Familien-Soziologie:

1. Statistik und Theorie der modernen Familie.

2. Die familienpolitische Gesetzgebung in Oesterreich und im Ausland.

3. Die Stellung von Mann, Frau und Kind in den verschiedenen Gesellschaften und Kulturen.

4. Die berufstätige Frau und Mutter.

5. Geschichte der Frauenbewegung.

6. Die Probleme der Erziehung zu Ehe und

Familie vom Standpunkt des Arztes, Ethikers, Soziologen, Theologen, Psychologen usf.

7. Ursachen (-forschung und -bekämpfung) der Ehescheidungen.

8. Ueberbevölkerung und Unterbevölkerung der Erde.

9. Großstadt-Soziologie.

10. Probleme von Wohnung und Wohnkultur, Stadtplanung und Siedlung, Wohnungseigentum usw.

11. Individuelle Familienforschung und Familiengeschichte.

II. Abteilung oder Seminar für G.ewerbe- und Industriesoziologie:

1. Allgemeine Betriebssoziologie.

2. Betriebswirtschaftslehre.

3. Theorie und Praxis der betrieblichen Menschenführung mit Uebungen für Jung-Unternehmer und Funktionäre.

4. Einführung in das Gewerberecht.

5. Einführung in das Arbeitsrecht.

6. Gewerkschaftstheorie und Gewerkschaftsbewegung. 1

7. Probleme der Arbeiterbildung, der Freizeitgestaltung, des Volkshochschulwesens usf.

8. Arbeitspsychologie.

9. Sozialmedizin.

10. Probleme der kollektiven Betriebsgestaltung: Verstaatlichung und Vergenossenschaftung.

11. Theorie und Praxis der Erfolgsbeteiligung.

12. Theorie und Praxis des Kleineigentums (Volksaktie usw.).

13. Die Notwendigkeit des Klein- und Mittelbetriebes.

14. Die Steuerpraxis (mit Uebungen).

111. Abteilung oder Seminar für Agrarsoziologie:

1. Beziehung von Stadt und Land.

2. Der Wandel der Dorfstrukturen.

3. Die Landflucht.

4. Das Dorf in der industriellen Entwicklung der Gegenwart.

5. Bergbauernprobleme.

6. Das Kleinbauernproblem als die soziale Frage der Gegenwart.

7. Der Zusammenbruch der alt-agrarischen Verfassung.

8. Der Wandel der ländlichen Betriebsformen.

9. Veränderungen der ländlichen Betriebsgrößen in der wirtschaftlichen Entwicklung der Gegenwart.

10. Bodenreform.

11. Die soziologische Situation des Großgrundbesitzes.

12. Das ländliche Bauwesen und die Wohnkultur.

13. Wandlungen des ländlichen Genossenschaftswesens.

14. Gegensatz von Landhandel und Genossenschaften.

15. Bäuerliche Kultur und Bildung.

IV. Abteilung oder Seminar für Politische Soziologie:

1. Die soziale Frage in den päpstlichen Enzykliken.

2. Die Marxismus-Theorie und ihre Geschichte.

3. Die soziologische und ökonomische Theorie des klassischen Liberalismus.

4. Allgemeine Soziologie der Partei.

5. Geschichte der Parteien in Oesterreich.

6. Positive Ethik.

7. Geschichte der Verfassungen in Oesterreich.

3. Geschichte der Freiheitsrechte.

9. Geschichte der Caritas, ihrer Methoden und Anstalten in Oesterreich.

10. Probleme von Kirche und Staat.

Mit diesem Katalog von Forschungs- und Unterrichtsgegenständen würde — fassen wir zusammen — in Linz jene unseren Universitäten alten Stils fehlende „Fakultät“ geschaffen werden, die die moderne Gesellschaft zur Erkenntnis und Betreuung ihrer Grundlagen dringend bedarf!

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