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Alteuropaische Kunst in neuen Perspektiven

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Hans Sedlmayr setzt die Reihe seiner Veröffentlichungen mit einer Auswahl seiner Schriften zur Kunstgeschichte in zwei Bänden fort, von denen der erste bereits vorliegt, der zweite für das Frühjahr 1960 angekündigt ist. Der erste Band vereinigt Aufsätze von der Vorgeschichte und der Antike bis zum Barock, der zweite Beiträge zur Kunst des 17. und 18. lahrhunderts und zu einigen Gegenständen allgemeiner Art. Umblick und Themenkreis sind erstaunlich, nicht weniger als das gesamte Gebiet der Kunstgeschichte wird ausgeschritten.

Im ersten Aufsatz („Ursprung und Anfänge der Kunst“) geht Sedlmayr, indem er nach dem Wesen der Kunst fragt, geradewegs auf das zentrale Problem der Kunstgeschichte los, die sich als wissenschaftliche Disziplin, was man auch sage, noch immer in der fatalen Situation befindet, ihren Forschungsgegenstand weder präzisieren noch definieren zu können. „Kunst“, meint Sedlmayr, „ist Gestaltung eines anschaulichen Charakters.“ Wie die Religion, die Weisheit und der Mythos, wächst sie aus der Begegnung mit dem „Numinosen“, nur daß der Nachdruck auf dem „anschaulichen Charakter“ liegt, der sich im Kunstwerk objektiviert. Diese (von Goethe abgeleitete) Begriffsbestimmung, die nicht nur für die primitive, sondern für die Kunst schlechthin gilt, sagt uns, „was Kunst ist und was nicht“....Der, „Bauer“.,.(in. der. umfassendsten.. Bedeutung, des Wortes), tektonjsiert die „atektonische“ Kunst der Urzeit Aus dieser fruchtbaren Spannung zwischen „sensualistischen“ und „noetischen“ Elementen begreift Sedlmayr in geistvoller und großzügiger Zusammenschau alles kunstgeschichtliche Geschehen bis auf die „hohe Kunst unserer Zeit“. In den Anfängen ist die Kunst „überall dem Leben eingewoben“, später sondert sie sich als autonomer Seinsbereich vom Lebensganzen ab.

Die beiden folgenden Aufsätze befassen sich mit Themen der antiken Kunstgeschichte, denen die Wiener Schule von Riegl bis Glück und Swoboda immer große Aufmerksamkeit gewidmet hat. Der erste handelt von den riesigen Baukomplexen der „römischen Kaiserthermen“, die zwischen Nero und Konstantin zu den führenden Bauaufgaben gehören und zusammen mit den Kaiserpalästen und den Theatern charakteristischer für den spätrömischen Städtebau sind als etwa die Tempelarchitektur. Den Bautypus sieht der Verfasser durch verschiedene Determinanten geformt, vor allem durch das überlieferte Baderitual, durch technische Faktoren (Beheizung) und den nahezu „brutalen Sinn“ der Römer für Symmetrie und rechtwinkelig sich kreuzende Achsen. Die architekturgeschichtlichen Auswirkungen dieses Typus reichen weit über die Antike hinaus. Noch der rhythmisch gestufte Reichtum barocker Raumgruppen und die Bahnhöfe des 19. lahrhunderts sind davon inspiriert.

Von größtem Interesse aber ist die Untersuchung „Spätantike Wandsysteme“ für die Ursprünge der christlichen Sakralbaukunst, zumal die Forschung darüber, wie die „Basilika-Tagung“ im Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München 1951. bezeugt, seit längerem stagniert. Schon im Titel ist der neue Ansatz erkennbar. Sedlmayr fragt weder nach dem Raumtypus noch nach dem Grundriß, sondern nach den Wandsystemen, und unterscheidet vier Typen (Fensterhochwand, Pfeilerarkaden-, Säulenarkaden-und Kolonnadenhochwand), die so einleuchtend benannt und charakterisiert sind, daß sich Erläuterungen erübrigen. Der erste entstand wahrscheinlich um 350, der zweite in severischer und der dritte in frühkonstantinischer Zeit. Nur die Anfänge der hybriden, aber epochalen Säulenarkadenhochwand bleiben weiterhin im dunkeln, wahrscheinlich aber ist sie spätrömisch-orientalischer Herkunft. Die Etappen der Entwicklung sind: Haus- und Saalkirchen ohne System, Saalkirche mit Fensterhochwand, dann folgen die konstantinischen Großbauten im Pfeilerarkaden- und Kolonnadensystem und annähernd gleichzeitig die im Säulenarkadensystem. Die Entstehung des Lichtgagdens, der ein rundes Jahrtausend christlicher Sakralarchitektur überdauert, verlegt Sedlmayr (anders als Deichmann, Gall und Langlotz) ins 2. Jahrhundert, den Beginn der Spätantike in severische Zeit.

Wie der Verfasser hier die spätantiken Wandsysteme zu beschreiben versucht, so in den beiden folgenden Aufsätzen („Das erste mittelalterliche Architektursystem“ und „Über eine mittelalterliche Art des Abbildens“) die spezifisch mittelalterlichen Gestaltungsprinzipien. Gemeint ist mit dem. ersten mittelalterlichen Architektursystem das justinianische, das nur in den Stilformen spätantik ist, in deFhferäfchischen Struktur hingegen bereift mittelalterlich. In diesem glänzenden Aufsatz formuliert Sedlmayr zum erstenmal den vieldiskutierten, aber darum noch lange nicht widerlegten Begriff des „Baldachinprinzips“, der ebenso wie der der (Spezifisch mittelalterlichen) „übergreifenden Form“, längst in die kunstgeschichtliche Terminologie eingegangen ist. (Wilhelm Pinder hat den Begriff „übergreifende Form“ uneingeschränkt und „in vollem Bewußtsein“ übernommen.) Sedlmayr indessen ging noch weiter und sucht auch in der Bildkünst nach dem spezifisch „Mittelalterlichen“ („Über eine mittelalterliche Art des Abbildens“). Ähnlich wie Panofsky und K. M. Swoboda begreift er die paradoxen Unrichtigkeiten mittelalterlicher Bilder nicht als „Deformation“, sondern als doppeldeutige Struktur in der Weise, daß alles bloß Temporale von der „präexistierenden Ordnung des Spiritualen“ übergriffen wird und mit dieser zu einer künstlerischen Synthese zusammentritt.

Es folgt eine Gruppe von drei Aufsätzen zur Kathedralkunst (..Die Geburt ier Kathedrale“, ..Die gotische Kathedrale Frankreichs als europäische Königskirche“ und „Säulen mitten im Raum“), deren Ergebnisse der Verfasser selbst inzwischen durch sein Buch „Entstehung der Kathedrale“ zum Teil überholt hat. Alle Deutungen der Kathedrale haben ihre Grenzen im Gegenstand selbst. So vollkommen die Kathedrale als Kunstwerk ist. in der Struktur ist sie immer und überall „unvollendet“ und gewissermaßen im Durchgang und Aa'ftaiifch begriffen. Nicht als Binnenraum, aber in der Struktur ist sie in exemplarischer Weise „offen“. Das Wesentliche liest nicht nur in dem. was sie darstellt, sondern auch in dem, worauf sie hinweist. Wie die Form selbst im einzelnen (Spitzbogen) und im ' ganzen (gerüst-

hafte Struktur, Gitterwand) transzendiert, so der Raum durch das Licht. Es sind Sakralbauten mit einem Optimum an Fensterflächen, durch die jedoch nicht der freie Raum, sondern das Jenseits hereinblickt, gewissermaßen in sakrales Licht gestellte „irdische Käfige“.

In den Kapiteln über die historische Dialektik der Kathedrale erweist sich Sedlmayr als Historiker hohen Ranges. Ein Beitrag hierzu ist der 1948 Pseudonym erschienene Aufsatz „Säulen mitten im Raum“. Indem der französische Geist — so im 13. wie im 17. Jahrhundert — ein Prinzip mit äußerster Konsequenz und Logik durchführt, ruft er auch die Reaktion hervor, deren Antitypen freilich dann zum Teil außerhalb Frankreichs hervorgebracht oder zumindest weitergebildet wurden. Dazu gehört die monumentale zweischiffige Hallenkirche und in England (als profanes Gegenstück zur Kathedrale) das chapterhouse, das aus der Geschichte des Parlamentarismus und der Demokratie in England so wenig wegzudenken ist wie die spätgotische Hallenkirche aus dem aufsteigenden Bürgertum in Deutschland. Nicht aus der Kathedralkunst, sondern aus dieser ntiklassischen Gegenströmung geht in der Hauptsache die Spätgotik und vor allem der spätgotische Wölbungsbau hervor. , *

Daß Sedlmayr, dem wir drei Untersuchungen über Teilprobleme der Michelangelo-Forschung verdanken („Michelangelo: Versuch über die Ursprünge seiner Kunst“, „Michelangelo: Drei Zeichnungen für Tommaso Cavalieri“ und „Die Area Capitolina des Michelangelo“), Wesentliches zur „Renaissance-Dämmerung“ zu sagen hat, stand zu erwarten. Ins Allgemeine geht jedoch nur der Aufsatz „Zur Revision der Renaissance“ (1948). Sedlmayr begreift die Renaissance nicht als Paganisierung der christlichen Welt, sondern umgekehrt als Christianisierung antiker Vorstellungen, und die Zeit von etwa 1500 bis 1800 als historische Einheit. „Von drei Zentralphänomenen her“ versucht er eine „Re-Vision“ dieser Epoche anzubahnen. Es sind dies: Die Wiedergeburt der antiken Götter- und Heroenwelt um 1460/1470 und, annähernd gleichzeitig, das Erscheinen der antiken „Säulenordnungswand“, der illusionistischen Deckenmalerei sowie der neuen Bautypen im Sakral- und Profanbau, vor allem des Palastes als neues Gesamtkunstwerk mit selbständiger Ikonologie. Keines dieser Phänomene ist, soweit dies dem Bericht zu entnehmen ist, auf der wissenschaftlichen Tagung des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 1954 erörtert worden, auch nicht das Verhältnis dei Begriffe Renaissance und Neuzeit, obwohl sie recht verschiedenen Umfangs sind. Überhaupt ist zu fragen, ob nicht auch in Italien — ganz abgesehen von der Bedeutung der Reformation und der protestantischen Länder für den Aufstieg der modernen Welt — seit dem Manierismus neue Mächte in die Entwicklung eintreten und ihren ursprünglichen Sinn verändern. Nicht das Selbstverständnis einer Epoche ist entscheidend — wahrscheinlich läßt sich ein umfangreicher Katalog von Kunstwerken aufstellen, die von den Künstlern der Renaissance irrig als antik begriffen und nachgeahmt wurden —, und auch nicht, wann bestimmte Leitvorstellungen zum erstenmal erscheinen, sondern wann sie dominant und stilbildend werden.

Pieter Bruegel sind die beiden letzten Aufsätze gewidmet: Die glänzende Strukturanalyse des Bildes „Sturz der Blinden“, das Sedlmayr aus verschiedenen Sinngeschichten (physiognomisch, formal, noetisch und integral) zu verstehen versucht, und „Die Macchia Bruegels“. Die Zentralphänomene der hintergründigen Kunst Bruegels sind: „Verfremdung“ und dissonantes Bildgefüge (Zwiespältigkeit von Landschaftsbühne und figuralen Szenen). Stellenweise erreicht die Interpretation eine sprachliche Präzision, die selbständigen literarischen Rang beanspruchen darf; wie denn die wissenschaftliche Prosa Sedlinayrs überhaupt von seltener Einfachheit und Klarheit ist. Die Gegenstände werden leicht und transparent, sie sind auch literarisch bewältigt. Selbst komplizierte Sachverhalte sind für den Laien nachvollziehbar, und manche seiner Formulierungen sind über die Fachsprache hinaus allgemeiner Besitz geworden.

Zu danken bleibt noch dem Verlag. Ausstattung und Klischees sind vorbildlich, der Satz großzügig. Univ.-Prof. Dr. Erich Bochmann I München

DIE BRÜCKE. Roman. Von Lorenz M a c k. Ben-ziger-Verlag, Einsiedeln-Zürich-Köln. 239 Seiten. Preis 12.95 sfr.

Der Kärntner Autor erzählt hier die Geschichte eines ehemaligen montenegrinischen Partisanenführers. Dieser Marko Kras hat im Kriege die Brücke von Duschawiza gesprengt, eine für den Widerstandskampf wichtige Tat, die ihm viele Auszeichnungen einbringt. Aber alle Ehrungen vermögen ihm nicht über ein immer wachsendes Schuldgefühl hinwegzuhelfen. Die Erinnerung an eine bei der Sprengung ums Leben gekommene Schar von Kindern nimmt ihm die Ruhe und Lebensfreude. Auch der Versuch, als Leuchtturmwächter, wie sein Vorgänger, ein schlichtes Leben im Dienst für seine Mitmenschen zu führen, treibt ihn nur noch tiefer in die Verzweiflung, bis ihm schließlich, in einer wenig glaubwürdig geschilderten Wandlung, der Schritt aus der Ichbezogenheit gelingt. Macks Stärke ist die Schilderung realistischer Vorgänge; die Entwicklung seelischer Geschehnisse, auf denen in diesem Buch das Schwergewicht liegt, ist ihm weniger gemäß. Es gibt da Entgleisungen ins Sentimentale und Pathetische, die die Lektüre des Buches verleiden, auch wenn man die oben skizzierte Absicht des Autors zu schätzen weiß.

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