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Anstieg auf vielen Pfaden

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„FUNKSTILLE“ HERRSCHT IN DER GEMÜTLICHEN braunen Dämmerung des getäfelten Raumes der Schutzhütte, denn auf der Höhe ist das kleine Transistorgerät nur für den Wetterbericht da, den brauchen die Bergsteiger, die am nächsten Morgen um drei Uhr zum Anstieg oder zu einer Gratwanderung aufbrechen wollen. Wer Lust hat, kann sich die Klampfen vom Nagel holen, nach altem Bergsteigerbrauch ein paar Gstanzln singen und zwischendurch die Kehle mit dem klaren, kräftigen, heimiischen „Obscht-ler“ befeuchten, doch um zehn Uhr hat der Hüttenzauber meist ein Ende, dann streckt man sich aufs Matrat-lenlager. Etwa 12 bis 18 Schilling muß man für die Nächtigung rechnen, eine Bergsteigermahlzeit bekommt man um fünf bis sieben Schilling. Für Waschgelegenheiten ist gesorgt, denn die Zeiten sind vorbei, da der Hochtourist stolz von einer mehrtägigen Gipfelwanderung eine dunkle Gesichtspatina aus Sonnenbräune und Schmutz mitbrachte.

266 Hütten besitzt der Österreichische Alpenverein im Bundesgebiet, 180 davon sind ausgesprochene Hochgebirgshüttcn in Höhen von 2000 bis 2600 Meter, Ausgangspunkte für geübte Alpinisten. Über Firn und Felsen reicht die Skala bis zu den Föhrenbergen des südlichen Wiener-waldes, wo die Schutzhäuser nur höher gelegene Jausenstationen, aber lohnende Ausflugsziele einer Nachmittagswanderung sind.

Mit 713.000 Besuchern im Jahr 1961 ist der Österreichische Alpenverein der größte Herbergswirt Österreichs. In verkehrsnahen Gebirgslagen, besonders im Voralpenraum, macht sich jedoch der motorisierte Massentourismus bemerkbar. Die Versprechungen und begeisterten Schilderungen in bunten Fremdenverkehrsprospekten locken an schönen Sommertagen in-und ausländische Alpenblickkonsumen-ten auf die Berge; Herr Protzekuchen im „Freizeithemd“ auf schroffem Fels, das gibt ein prächtiges Color-Dia für den Urlaubsbericht. Da geraten die „Zünftigen“ in die Minderheit. Sie ziehen sich zurück, wandern ein paar hundert Meter weiter, dort herrscht Ruhe, denn die Pfade sind zu steinig für dünnsohlige Sonntagsalpinisten.

Durch den chronischen Personalmangel hat es der Alpenverein mit seiner Suche nach geeigneten Hüttenwirten,vor allem für die Hochgebirgshütten, besonders schwer.

IM JUBILÄUMSJAHR 1962, hundert Jahre nach der Gründung durch begeisterte junge Bergfreunde von der Wiener Universität, umfaßt der Österreichische Alpenverein 150 Sektionen mit insgesamt 164.000 Mitgliedern, vom schlichten Wanderer bis zum prominenten Hochalpinisten. Der Alpenverein selbst fungiert in der Art eines Dachverbandes, die einzelnen Sektionen sind selbständige Rechtskörper und Besitzer der Hütten, für deren Erhaltung und Betrieb sie zu sorgen haben. Sie heben von ihren Mitgliedern einen Jahresbeitrag in der Höhe von 60 Schilling ein und bieten für diese geringe Summe viele Vergünstigungen: Fahrpreisermäßigungen auf der Bundesbahn, Sondersätze auf den Hütten (die übrigens auch den Angehörigen anderer alpiner Verbände des In- und Auslandes gewährt werden) und außerdem eine Versicherung, die bei Bergunfall wirksam wird.

Der Sitz des ÖAV ist Innsbruck, doch die Sektionen der Landesmetropole Wien sind mit 60.000 Mitgliedern vertreten, die meisten davon in den Gruppen „Austria“, „Edelweiß“ und „Österreichischer Gebirgsverean“.

Eine erfreuliche, aus der großstädtischen Perspektive gesehen, fast „unzeitgemäß“ scheinende Bilanz: Statistik wird zwar beim Alpenverein klein geschrieben, aber man hat ermittelt, daß 35 Prozent des Gesamt-mitgliederstandes junge Menschen unter 25 Jahren sind, viele davon schon zweite und dritte Touristengeneration. Für die Zwölf- bis Achtzehnjährigen wurden eigene Jugendgruppen geschaffen, die Älteren finden sich an den regelmäßigen Übungsabenden der Jungmannschaften zusammen, wo alle theoretische Ausbildung in Kartenlesen, Seilkunde, Wetterkunde, Erster Hilfe und anderen einschlägigen alpinistisohen Wissensgebieten erhalten.

Die erforderlichen Llnterrichtsbe-helfe und Handbücher gibt der ÖAV in eigener Regie heraus. Der publizistischen Arbeit kam von Anfang an große Bedeutung zu. Monatlich erscheint die sehr gut redigierte illustrierte Zeitschrift „Der Bergsteiger“, und das ÖAV-Jahrbuch ist eine anerkannte Schrift. Jeder Interessent, der die Geschichte der Erschließung der österreichischen Alpenwelt> studieren will, findet in diesen Veröffentlichungen eine Fülle wertvoller Informationen, die in ihrer Gesamtheit ein lük-kertloses Bild der bergsteigerischen Entwicklung innerhalb und außerhalb unserer Grenzen vermitteln.

Diese starke Ausrichtung auf das geschriebene Wort brachte 'diem Alpenverein in der ersten Zeit seines Bestehens sogar den Vorwurf ein, er sei eher ein literarischer Zirkel als eine Gemeinschaft von Bergsteigern. Daß diese Wiener „Professoren“ aber auch sehr gut mit Wanderstab, Eispickel und Seil umzugehen verstanden, erwies sich jedoch bald. Sie fühlten zahlreiche Erstbesteigungen durch, legten die Pfade und Steige an, die im Lauf der Zeit im österreichischen Hochgebirge ein Wegenetz von 40.000 Kilometern ergaben, ließen aus Felsgestein die ersten Schutzhütten errichten und organisierten die Ausbdidung von tüchtigen Bergführern. So schufen sie die Vorbedingungen dafür, daß der bis dahin auf die Schweizer Alpen konzentrierte junge internationale Alpinismus auch die Schönheit und Größe der österreichischen Bergwelt entdeckte. Hatte man doch in Österreich Klage darüber geführt, daß Ausländer hier nur einige bekannte Badeorte und berühmte Punkte besuchten und ambitionierte Bergsteiger den benachbarten Eidgenossen eine „reiche Ernte von Goldkörnern“ brächten. Nun traten neue lockende Ziele ins Blickfeld der europäischen Hochtouristen: der Dachstein, die Hohen Tauern. der Großglockner, die Dolomiten, der Ortler, die Zillertaler und Ötztaler Alpen. *

..ZWECK DES VEREINES IST: Die Kenntnisse von den Alpen mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen zu verbreiten und zu erweitern, die Liebe zu ihnen zu fördern und ihre Bereisung zu erleichtern.“ — Getreu diesem Grundsatz hatten die jungen Wissenschaftler Österreich den seinen geographischen Gegebenheiten entsprechenden Platz gesichert. So kam es zu einer engen Zusammenarbeit mit Bergsteigergruppen, die im Flachland beheimatet waren. Finanzkräftige deutsche Sektionen errichteten im österreichischen Hochgebirge Schutzhütten, und die enge Fühlungnahme rührte zu einer jahrzehntelangen Fusiionierung in Form des „Deutschen und Österreichischen Alpenvereins“.

Gegenwärtig sind mehrere ausländische Sektionen dem ÖAV angeschlossen. Holland stellt mit 6000 Mitgliedern den stärksten Verband, denn gerade die Holländer haben eine alte Bergsteigertradition, und während des Sommers kann man auf den Hütten zünftige Mijnheers aus Amsterdam oder Delft treffen, die das wohlbekannte Edelweißabzeichen auf ihren Anoraks tragen. Sogar Angehörige der königlichen Familie sind bei dieser Sektion. Auch in Flandern, Dänemark und England, dem Land der ersten Alpinisten, bestehen ÖAV-Gruppen. *

FORSCHUNG UND KARTOGRAPHISCHE ARBEIT ergänzen die alpinistische Erschließung. Neben den Leistungen des berühmten Militärgeo-graphischen Instituts war es vor allem die Alpenvereins-Kartographie, die Österreich auf diesem Gebiet Weltgeltung brachte. Die erste ÖAV-Karte aus dem Jahre 1365 gab einen Überblick über die Großvenedigergruppe. Bald folgten Darstellungen anderer Sektoren des Ostalpenraumes, und im Lauf der Jahrzehnte entstand auf diese Weise umfangreiches kartographisches Material nach genau erarbeiteten Unterlagen. Nun gibt der Alpenverein alljährlich eine Karte über einen bestimmten Teil der österreichischen Alpen heraus, Maßstab 1:25.000. Außerdem waren es Alpenvereins-Mit-gldeder, die umfangreiche Mappierungs-arbeiten in den Gebieten des Mount Everest, des Nanga Parbat und der Anden durchführten und der internationalen Alpinistik wertvolle Behelfe lieferten.

Ebenso gehört die Entwicklung und Erprobung neuartiger, zweckmäßiger Ausrüstung zum Arbeitsprogramm des Alpenvereins. An erster Stelle des umfassenden Arbeitsfeldes steht das Bergrettungswesen. Der Großteil der modernen Rettungsgeräte, die heute in den Gebirgsgegenden Europas zum Einsatz kommen, wurde beim ÖAV entwickelt.

Es ist selbstverständlich, daß ein Verband von solcher Bedeutung seine reichen Erfahrungen auch der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt: viele der Ausbilder bei den Hochgebirgslehr-gängen der Gendarmerie und des Bundesheeres erhielten ihre gründliche Schulung in Kletter- und Bergführerkursen des Alpenvereins. %

Alljährlich werden Stipendien an junge Naturwissenschaftler vergeben, Autoren fachlicher Publikationen erhalten Druckbeiträge. Auch der theoretische Medicriner findet ein weites Betätigungsfeld: der Wiener Physiologe Prof. Dr. Durig beschäftigte sich mit eingehenden Untersuchungen der körperlichen Leistungsfähigkeit im Hochgebirge und erbrachte selbst den überzeugendsten Beweis für die gesundheitsfördernde Wirkung des Bergsteigens; er erreichte, man glaubt es kaum, eine ÖAV-Mitgliedschaft von achtzig Jahren!

ECHTE INDIVIDUALISTEN schließen sich in dieser großen Gemeinschaft zusammen, jeder ein guter, verläßlicher Bergkamerad, doch innerlich „im Alleingang“ begriffen. Rekorde, Wettbewerbe, wenn es üni die Besteigung eines Gipfels, eine Gratwanderung oder* eine. Gletschertour geht? Solche Gedanken sind ihnen fremd. Das Unwesen alpinistischer Kommerzialisierung und unverantwortliche Abenteuer mit geldschweren Publicity-• Möglichkeiten wie zum Beispiel einige unschöne Vorfälle an der Eiger-Nord-wand lehnen sie strikte ab.

Es gilbt nämlich, so meinen sie, viele Pfade für einen glückhaften Anstieg, und jeder davon kann zum Erlebnis werden, mag er nun auf einen Dreitausender führen oder „nur“ auf eine Kuppe, über der die schwarzgrünen Wipfel der Föhren rauschen...

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