6647265-1958_31_14.jpg
Digital In Arbeit

Aus Armut zum Industrieland

Werbung
Werbung
Werbung

In extremer Randlage Oesterreichs — schon in der Donaumonarchie vor dem ersten Weltkrieg —, fernab von den großen Verbrauchergebieten, bar jeder naturgegebenen Rohstoffgrundlage, arm an landwirtschaftlich nutzbarem Boden, ist Vorarlberg im Laufe der letzten 150 Jahre ein ausgesprochenes Industrieland geworden, ohne staatliche Subventionen für Betriebe, gewachsen aus zähem Fleiß der Bevölkerung, aus Rührigkeit, Findigkeit und Anpassungsfähigkeit privater Unternehmer. Wo noch vor hundert oder vor achtzig und sogar vor sechzig Jahren Arbeiter bärfuß in die ersten Fabriken gingen, wo seinerzeit jährlich Tausende von Bewohnern Saisonarbeit in der Ferne suchten, wo jährlich Hunderte und früher Tausende von schulpflichtigen Kindern während der Sommermonate an Bauernhöfe im benachbarten Schwabenland verdungen wurden, dort herrschen heute Betriebsamkeit und verhältnismäßiges Wohlergehen, dort ist seit etlichen Jahren die Rate der Arbeitslosigkeit am kleinsten im ganzen Bundesgebiet, dorthin sind in der letzten

Zeit aus anderen Bundesländern Tausende von Arbeitskräften zugewandert.

Man spricht gerne von Vorarlberg als einem industriellen Mittelpunkt, vor allem als einem Mittelpunkt der österreichischen Textilindustrie, was bei dem so ungünstigen Standort im äußersten westlichen. Zipfel Oesterreichs in geographischer Abgelegenheit fast sinnwidrig ist. In geschichtlicher Schau war allerdings Vorarlberg einmal ein Mittelpunkt der Textilindustrie, als in den Anfängen der industriellen Entwicklung vor hundert und mehr Jahren entscheidende Anregungen aus dem Westen und Norden in dieses Land kamen und die Erzeugnisse junger Industriebetriebe Vorarlbergs im nahen Süden, auf den Märkten der Lombardei und Venetiens Absatz fanden und die Unternehmungslust einzelner Vorarlberger Firmen auch nach Tirol ausstrahlte. Trotz beachtlichen Gewerbefleiß zählten aber noch 1880 mehr als 55 Prozent der Bevölkerung zur Land- und Forstwirtschaft. Der Verlust der norditälie-nischen Märkte brachte für Vorarlbergs Textilindustrie eine langanhaltende Krise, die erst voll überwunden werden konnte nach Eröffnung der Arlbergbahn (1884), die den Weg nach dem Osten der Monarchie frei und sicher machte, und im Gefolge der Schutzzollpolitik der achtziger Jahre, die im Laufe der Zeit eine Reihe von Tochterbetrieben schwäbischer und schweizerischer Unternehmungen entstehen ließ: so kamen Betriebe der Wollindustrie, der Nahrungsmittelindustrie und die ersten Anfänge der Wirkwarenerzeugung ins Land. Die Stickerei, ursprünglich reine Heimarbeit für schweizerische Auftraggeber, später Maschinenstickerei in ständiger Umstellung bis zur Automatisierung, arbeitete noch bis zur großen Krise nach dem ersten Weltkrieg nahezu ausschließlich im Lohn für schweizerische Unternehmer, eine Erscheinung, die erst nach dem zweiten Weltkrieg fortgefallen ist. Die Krise in der Stickerei erzwang vielfach eine Umstellung auf andere Industriezweige, besonders häufig auf die Wirkerei, einen Zweig der Textilindustrie, der sich in den letzten zehn Jahren besonders lebhaft entfaltet hat und in Oesterreich führend geworden ist.

Die denkbar ungünstige Verkehrslage im Rahmen der österreichischen Gesamtwirtschaft ließ nur arbeitsintensive Leichtindustrien groß werden, im besonderen eben die Textilindustrie, neben der noch Spezialartikel der Nahrungs- und Genußmittelindustrie (Maggi-Suppenartikel, Su-chard-SchokoIade, Deuring-Traubenzucker), der Elektroindustrie (Elektra, Electricus Volta), der Metallverarbeitung ■ (Höll-Tuben, Collini-Be-stecke, König-Leichtmetallkolben, Plangg & Pfluger-Uhren) und der Holzindustrie (Formsteche-reien und Schablonenerzeugung für Textildrucke, neuerdings auch Kästle-Ski) sowie der Erzeugung von Artikeln aus Kunststoffen eine größere Bedeutung für den österreichischen Markt und für den Absatz im Ausland erlangen konnten. Großbetriebe der eisenverarbeitenden Schwerindustrie scheiden bis heute praktisch ganz aus, mögen auch eine Erzeugung von Webstuhlautomaten im Zusammenhang mit der Textilindustrie und die Herstellung von Spezial-Heizungsein-richtungen sowie von Skiliften, Aufzügen und Holzbearbeitungsmaschinen in den letzten Jahren sich erfolgreich durchgesetzt haben. Alle diese Betriebe zusammen beschäftigen aber noch nicht so viele Menschen wie das größte Textilunter-nehmen allein. ,

So darf man Vorarlberg gegenwärtig zwar nicht als einen Mittelpunkt, wohl aber als einen Schwerpunkt der Industrie im Gefüge der österreichischen Wirtschaft ansprechen. Doch soll nicht vergessen werden, daß hier die Wasserkräfte schon sehr früh durch kleinere und größere Elektrizitätswerke genutzt wurden und einer der größten Lieferanten von elektrischem Strom im ganzen Alpengebiet, die Vorarlberger Iiiwerke, hier aus privater Initiative aufgebaut wurden; aber immer noch sind rund zwei Milliarden Kilowattstunden Jahresarbeitsvermögen nicht ausgebaut. Die große Bedeutung des Fremdenverkehrs, vor allem für die abgelegenen, ruhigen Talschaften, sei ebenfalls nur kurz erwähnt.

In diesem Industrieland ist die landwirtschaftliche Bevölkerung begreiflicherweise nur schwach vertreten — sie mag noch 15 bis' 16 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen —, doch sind Rindviehzucht und Milchwirtschaft hoch entwickelt; gepflegte Obstbäume stehen in den Wiesen nicht nur der Bauern, sondern ebenso der Gewerbetreibenden, der Arbeiter und Angestellten, denn Tausende von Arbeitnehmern nennen ein kleines' Stück Land und ein Häuschen ihr eigen oder streben es als Frucht ihrer Arbeit und des Zusammenhaltes in den Familien an. In den Jahren nach diesem Krieg (Zahlen für Juni 1951 bis Ende 1956) sind in keinem anderen Bundesland anteilmäßig so viele familiengerechte Wohnungen gebaut worden wie in,Vorarlberg: Vom Nettozugang an Wohnungen in fünfeinhalb Jahren entfielen in Vorarlberg nur 9,5% auf Wohnungen Lis zu zwei Wohneinheiten, während 90,5% der Wohnungen zweieinhalb und mehr Wohneinheiten aufwiesen; im Durchschnitt Oesterreichs waren vom Nettozugang nur 3 8,2% Wohnungen mit zweieinhalb und mehr Wohneinheiten, in Tirol waren es 67,1%, in Salzburg 53,7%. Nach den Erhebungen des Statistischen Zentralamtes wohnten 1951 nur 21,2% der Vorarlberger Bevölkerung in Kleinwohnungen bis zu eineinhalb Wohneinheiten (in ganz Oesterreich 53,5%), wohl ein untrüglicheres Zeichen für die soziale Struktur des Landes als Angaben über die Stellung im Wirtschaftsleben.

Nach diesem Seitenblick zurück zur Industrie, die heute die tragende Säule der ganzen Wirtschaft Vorarlbergs darstellt. Ende 1957 wurden 77.009 beschäftigte Arbeitnehmer im Lande gezählt, davon fanden 30.608, also 39,8 Prozent, ihre Beschäftigung in den Industrieunternehmungen (einschließlich Elektrizitätswirtschaft). Von 1000 Einwohnern waren 140 Arbeitnehmer in der Industrie tätig, während es in Wien doch nur 117, im österreichischen Durchschnitt 8 5 waren. Im ganzen hat die Industrie im Jahr 1957 schätzungsweise mindestens 650 Millionen Schilling an Löhnen und Gehältern ausgezahlt; man mag überdenken, wie dieser Einkommensstrom befruchtend auf Gewerbe und Handel weitergewirkt hat. Innerhalb der Industrie aber hat die Textil- und Bekleidungsindustrie — trotz des Wachstums anderer Spezialbetriebe — eine überragende Bedeutung, fanden doch (Ende 1957) 71 Prozent der industriellen Arbeitnehmer allein in der Textil- und Bekleidungsindustrie Beschäftigung. Dieser Industriezweig hat sich im Laufe der letzten 150 Jahre reich entfaltet und immer wieder den neuen Gegebenheiten angepaßt. Die Großmaschinenstickerei steht einzig da in Oesterreich; in ihrer Arbeit praktisch ganz von der Ausfuhr abhängig und damit von Modeströmungen in der Welt, ist sie trotz vieler Krisen immer wieder zu neuer Kraft erblüht und hat im Jahre 1957 für mehr als 500 Millionen Schilling Erzeugnisse im Ausland abgesetzt. Die Baumwollindustrie weist vier Unternehmungen mit mehr als 1000 Beschäftigten auf, sie zählt eine Reihe von Betrieben, deren Anfänge auf hundert und mehr Jahre zurückgehen und die sich im schärfsten Wettbewerb immer wieder bewährt haben. Die Wirkereien im Lande, deren einzelne auch Zweigbetriebe in Wien betreiben, decken den Bedarf an Wirkwaren in Oesterreich mehr als zur Hälfte, ja in vielen Erzeugnissen zu drei Vierteln und mehr; die erst nach dem letzten Krieg ins Leben gerufenen Strumpffabriken sind bereits zu einer führenden Stellung in Oesterreich aufgerückt. Die Wollindustrie fällt vor allem mit der Kammgarnspinnerei ins Gewicht. Die Bekleidungsindustrie, noch vor 20 Jahren nicht erwähnenswert, beschäftigt jetzt gegen 1200 Menschen. Die Textilindustrie und die Bekleidungsindustrie zusammen erbrachten 1957 einen Bruttoproduktionswert von 3061 Millionen Schilling, alle anderen Industriezweige (ohne Elektrizitätswerke und Sägewerke) zusammen nur 925 Millionen Schilling. Die Textilindustrie bestreitet 29,8. die Bekleidungsindustrie 5,6 Prozent des Bruttoproduktionswertes dieser Industriezweige in Oesterreich.

Diese Ballung textiler Industriezweige in einem kleinen Land bringt einerseits wohl im Kampf um den Absatz einen hohen Leistungsstand, wie die Messe in Dornbirn jedes Jahr neu beweist, sie zieht aber auch ernste Sorgen und mögliche Gefahren für die Gesamtwirtschaft des Landes nach sich. Das Geschick dieser Industrie entscheidet über Wohl und Wehe des ganzen Landes. Was Wunder, wenn man hier die möglichen Auswirkungen der wirtschaftlichen Einigung Europas auf die Textilindustrie besonders aufmerksam studiert, daß man der Ausbildung des Nachwuchses in der nun endlich erweiterten Bundestextilschule in Dornbirn größte Beachtung schenkt, daß man überhaupt alle Anstrengungen macht, um im kommenden größeren Markt nicht nur bestehen, sondern noch besser gedeihen zu können. Die verständnisvolle Zusammenarbeit aller Kräfte im Lande wird dafür unerläßlich sein, die Leistungsfähigkeit aller Wirtschaftszweige in diesem hochindustrialisierten Randgebiet Oesterreichs wird noch stark verbessert werden müssen. Mit Zuversicht, Tatkraft und Arbeitsfreude geht man im Bewußtsein aller Schwierigkeiten an die neuen Aufgaben heran, um das Werk der Väter in die Zukunft weiterzubauen. Ist es ganz abwegig, als möglich anzunehmen, daß in 20 oder 25 Jahren dieses Land Vorarlberg in einem freien und wirtschaftlich geeinten Europa, an einem Schnittpunkt des Nord-Süd- und des Ost-West-Verkehrs, aus einem wirtschaftlichen Randgebiet wieder ein wirtschaftlicher Mittelpunkt wird? Und können nicht andere Länder, die von der nächsten Zukunft befürchten, in eine Randlage abgedrängt 2u werden, in einem, freien, größeren Europa wieder tätig ausstrahlender Mittelpunkt und neues Kraftfeld werden? „Nur der hat recht, der recht sich müht; du selbst bist deines Glückes Schmied.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung