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Bastard Unterpflasterstraßenbahn

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Erfreulicherweise hat die Gemeinde Wien nun ihre lange Opposition gegen unterirdische Schienenwege aufgegeben. Auch hier zeigt es sich, daß psychologische Momente oft wirksamer sind als technischwirtschaftliche Überlegungen. Noch vor zehn Jahren lehnten die Wiener Stadtväter „Untergrundbahnen als undurchführbar ab, weil ihre Baukosten durch die Einnahmen des künftigen Betriebes weder verzinst noch zurückgezahlt werden könnten“ (Wiener Probleme, 26. September 1954). Heute können sie ebenso wenig zurückgezahlt werden — übrigens wurden Straßen bereits damals großzügigst gebaut, obwohl auch deren Kosten niemals hereinkommen —, aber die Einstellung zum Gesamtproblem hat sich unter dem Druck der Autolawine eben geändert.

Weniger erfreulich ist das Festlegen auf unterirdische Straßenbahnen. Konnte man sich mit der Ser- Linie noch eher abfinden, weil sich ihr Tunnel immerhin später für richtiggehenden U-Bahn-Betrieb verwenden läßt, so steht man der unterirdischen Führung der Linien 62 und 65 beim Matzleinsdorferplatz mit den aus dem Oberflächenverkehr übernommenen engen Kurven fassungslos gegenüber. Dieser Tunnel kann nie für einen schnellen U-Bahn-Verkehr verwendet werden und widerspricht selbst der Forderung der Anhänger der U-Straßen- bahn, ihn auf jeden Fall nach Trassierungselementen der U-Bahn zu bauen. Dabei gehört doch ausschließlich der richtigen U-Bahn die fernere Zukunft, denn nur diese läßt sich automatisieren. Die Möglichkeit weitgehender Automation, die schneller als erwartet kommt, ist doch das große Plus des Schie nenverkehrs, und schon bald werden Untergrundbahnzüge genau so ohne Fahrer betrieben wie jeder moderne Aufzug. Erst dann wird ohne Mehrkosten ein attraktiver Verkehr in kurzen Intervallen möglich sein. Da auch eine unterirdische Durchmesserlinie durch die Innere Stadt (Karlsplatz—Praterstraße) geplant ist, böte sich die Möglichkeit zum Ausbau einer U-Bahn-Linie im Verlauf der Wiedner Hauptstraße. Um so unverständlicher erscheint die Führung mit engen Kurven durch die Kliebergasse. Hier erweist sich wieder das Fehlen eines Gesamtkonzepts für den Wiener Verkehr, das auf das kommende Jahrhundert abzustimmen wäre, als schwere Unterlassungssünde.

Der Bastard Unterpflasterstraßenbahn ist jedenfalls keine Verkehrslösung des 21. Jahrhunderts, sondern ein Anachronismus (Ing.-Arch. E. W. Ebersold in der Schweizer Zeitschrift „Wirtschaft und Technik im. Transport“). Vor allem für Wien überrascht eine solche Entscheidung, denn es besitzt bereits unterirdische Verkehrslinien und will dessenungeachtet ein neues unterirdisches Netz aufbauen. Hamburg, Berlin, Stockholm, Oslo, Mailand, Madrid, Barcelona, Kopenhagen, Moskau, Leningrad. Tokio, Osaka oder Toronto zum Beispiel bauen keine U-Straßenbahnen, sondern erweitern ihr Untergrund- oder Schnellbahnnetz. Selbst Frankfurt am Main, da keine U-Bahn besitzt, hat den Plan einer U-Straßenbahn fallen gelassen und baut nun ein vollwertiges Stadtbahnnetz. London, New York und Paris, die bereits weitverzweigte Untergrundbahnen besitzen, errichten übergeordnete Expreß-U-Bahn- Linien, adäquate Verkehrsadern für die Großstadt des 21. Jahrhunderts,

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