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Braucht Wien Satellitenstadte?

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So wie wohl manchmal im Leben, in der Hast der Geschäfte und der Sorgen des Alltags der Blick für die großen Zusammenhänge verlorengeht, kann es auch oft in der Stadtplanung geschehen.

Das Wissen unserer Zeit über die sozialen, ästhetischen, technischen und wirtschaftlichen Aufgaben der Stadtplanung ist wohl größer als in der Vergangenheit. Aber gerade, weil es uns scheint, daß wir genau wissen, was wir wollen, sollten wir uns der Grenzen des Möglichen bewußt bleiben.

Will man der verantwortungsvollen sozialen Aufgabe, die der Städtebau uns stellt, gerecht werden, so müssen die drei Arbeitsvorgänge der Planung

für die Gegenwart, für die abschätzbare nahe Zukunft und auf lange Sicht zumindest gleichzeitig entwickelt werden.

Aufsätze der Tagespresse, als wäre es nur eine Frage der Zeit und des Kapitals, die bestehenden Ansammlungen menschlicher Wohnungen zu Gartenstädten zu machen, dürfen nicht unwidersprochen bleiben. Ein Artikel in einer Wiener Zeitung hat neulich wieder deutlich gezeigt, wie wenig umfassend die städtebaulichen Probleme unserer Stadt — und jede Stadt hat ihr besonderes Wachstum — selbst von Berufenen gesehen werden. Es war da von einem bekannten Wiener Architekten zu lesen, der uns eine Reihe von Satellitenstädten von Wien bis Wiener Neustadt in Aussicht stellte.

Der flüchtige Leser freut sich, daß so gut an ihn gedacht wird, bedauert vielleicht ein wenig, daß auf die reizenden Orte von Wien bis Vöslau, die er als Spaziergänger liebt, nun der Städtebau seine harte Hand legen will, und vergißt das alles über den nächsten Zeilen der Zeitung.

Wie sieht das aber nun wirklich aus? Nichts gegen Satelliten an sich, aber braucht Wien Satellitenstädte? Ist Wien so übervölkert, hat es eine so große Wohndichte, daß es sich Luft schaffen muß? Oder ist es, falls dies nicht zutrifft, nötig, Gartenstädte zu schaffen, weil das im Bereich von Wien nicht möglich ist, oder soll die Industrie, die wir nun endlich wiederaufbauen wollen, entlang der genannten Linie von Wien bis Wiener Neustadt untergebracht werden und hat eben die erwähnten Satellitenstädte im Gefolge? Der Schreiber dieser Zeilen ist der Meinung, daß keine dieser Fragen mit einem eindeutigen „Ja“ beantwortet werden kann.

Der Raum von Wien ist so groß, daß er auf Grund der Statistiken noch mindestens 120.000 Wohnungen aufnehmen kann, ohne eine über das wünschenswerte steigende Wohndichte zu erreichen. Es ist im Gegenteil für große Teile der Stadt geradezu nötig, Baulücken zu füllen, Plätze, die heute von Schrebergärten und Lagerplätzen besetzt sind, in den städtischen Organismus (zum Teil natürlich auch als Parkgelände) einzuordnen.

Wien ist das Beispiel einer Stadt, die heute an einer gewissen Blutleere leidet. An vielen Punkten der Außenbezirke werden Zentren und Kerne, wie es der Städtebauer nennt, zu bilden sein. Unsere Stadt wird dadurch schöner werden und ihr Leben erfüllter und kompletter. Allein die Baulücken der Stadt weisen noch rund 300 Hektar Grundflächen auf, von denen rund 80 Hektar verbaubar sind, die den Bau von mindestens 50.000 Wohnungen gestatten. Aber außer den Baulücken hat Wien noch 1000 Hektar Erntelandflächen, wovon wiederum 380 Hektar ausgesprochenes Bauland sind, die in erster Linie für den Bau von Gartensiedlungen herangezogen werden können. Schließlich ist durch Verlegung und Zusammenlegung der Industrie mit der Freimachung von großen Flächen Bauland für Wohnzwecke zu rechnen.

Aus diesen Tatsachen, die durch Statistiken erhärtet sind, geht hervor, daß die erwähnten 120.000 Wohnungen noch in Wien selbst errichtet werden können. Wien wird auch dann noch lange nicht die Wohndichte anderer

Großstädte erreicht haben, und es wird trotzdem die Schaffung großer zusammenhängender Grünflächen möglich sein, ja geradezu durch die Ausnützung der brachliegenden Flächen gleichzeitig hergestellt werden können.

Etwas ähnliches gilt für die Industrie. In Wien liegen außerordentlich große Flächen, die als Industriegebiet ausgewiesen sind, ungenützt. Eine Notwendigkeit, Satelliten für die Industrie zu schaffen, besteht daher zur Zeit nicht und würde nur das Verkehrsproblem „Arbeitsstätte — Wohnstätte“ verschärfen.

Die Stadtplanung von London sowie anderer Großstädte hat die für ihre besondere Entwicklung absolut notwendige Folgerung gezogen und Satellitenstädte gebaut. Jede radiale, rindenartige Vergrößerung des ungeheuren Stadtraumes hätte diesen der Erstickung nähergebracht.

Die städtebauliche Entwicklung Wiens rechtfertigt es in abschätzbarer Zukunft nicht, einen Weg zu beschreiten, der zur Voraussetzung die Schaffung neuer Straßen- und Verkehrsmittel sowie neuer Versorgungsanlagen in einem derartigen Ausmaß hat.

Da jede neugeschaffene Wohnung im Rahmen des bestehenden Straßennetzes um Wesentliches billiger kommt als eine Neuplanung auf freiem Gelände, ist aus volkswirtschaftlichen Erwägungen der gerade für Wien mögliche Weg des Ausbaues unserer Stadt das Natürliche und das Gegebene. Es ist eine Tatsache, daß Laien und schließlich auch Studenten nur allzugern von großen Programmen sprechen hören. Es ist so schön, zu lesen, daß nun einmal wieder alles besser und ganz anders werden soll. Aufgabe des verantwortungsbewußten Städtebauers ist es aber, mit den Gegebenheiten zu rechnen und auch der jungen Generation der Architekten einen Weg zu zeigen, der zu verwirklichen ist.

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