6693540-1962_48_05.jpg
Digital In Arbeit

Das alte Haus und der Zins

Werbung
Werbung
Werbung

Eigentlich dürfte es nicht mehr stehen, das alte Haus. Steuerlich steht nur noch das Erdgeschoß. 80 Prozent etwa sind ja schon abgeschrieben. Trotzdem tut es treu seine Dienste und gibt noch vielen ein Obdach. Dies ist auch gut in der Zeit der Wohnraumknappheit und des Bedarfes an Wohnungen. Der Zins, den die Parteien zahlen, ist mäßig, zu mäßig für den Hausbesitzer. Die Klage ist berechtigt, vom Standpunkt des letzteren. Doch ebenso verständlich, daß der Mieter nicht mehr zu zahlen bereit ist; Kraftfahrzeuge aus dem Baujahr dieses Hauses sind, soweit sie noch erhalten blieben, im Museum, und die Mode hat sich bis jetzt zur Unkenntlichkeit verändert. Schmuckstücke verlieren nach einer Anzahl von Jahren ihren Wert, nur deshalb, weil ihre Fasson nicht mehr modern ist, und wir würden auch wirklich nicht vom Altwarenhandel einen Gegenstand zum neuen Preis erstehen. Ein Bruchteil wird dort verlangt und gegeben.

Was Mode, Muster usw. auf dem Gebiet von Kleidung, Technik und anderen Lebensgebieten sind, bedeutet für ein Haus die Bauordnung. Sie ist der Rahmen, in dem der Architekt und der Baumeister die Gestaltung des zu errichtenden Hauses zu vollziehen haben. Hier ist es nun interessant festzustellen, daß ein Großteil der Wiener Häuser nach den Bestimmungen der Bauordnung aus dem Jahre 1883 gebaut wurde. Weiter gibt es auch eine nicht unbeträchtliche Zahl,' die bereits früher, nach den Richtlinien des Gesetzes aus den Jahren 1868/69, geplant war.

Wenn man sich vergegenwärtigt, was diese Jahreszahlen bedeuten, ist es nicht uninteressant, sich in Erinnerung zu rufen, daß in jenem Jahr 188 3 durch Wien noch die Pferdebahn fuhr, daß es knapp sieben Jahre her war, daß das historische Marcus-Auto konstruiert und hergestellt worden war, daß noch 14 Jahre zur Regulierung des Wienflusses fehlten und erst wenige Jahre zuvor die erste Hochquellenwasserleitung das Gebirgswasser nach Wien führte. Noch sind die inneren Bezirke von den Wällen umgeben, die erst 1893 geschliffen wurden, und Hauptstraßen verschiedener Bezirke, die heute deren Gesicht bilden, waren noch Wiesen, Felder und Äcker. Die Elektrizität war noch nicht in praktischer Verwendung, da erst durch Gemeinderatsbeschluß vom 11. Mai 1900 die Errichtung eines E-Werkes ermöglicht wurde. Das war die Zeit und ihre Atmosphäre, in der die Häuser der sogenannten Gründerzeit aus dem Boden sprossen, die noch heute glücklicherweise ihren Dienst tun.

Als Kaiser Franz Joseph das „Gesetz vom 17. Jänner 1883, womit die Bauordnung für die k. k. Reichshaupt-und Residenzstadt Wien erlassen wird“, in Budapest unterzeichnete, war dieses Gesetz wohl ein großer Fortschritt, angepaßt der Weiterentwicklung und Ausdehnung der Stadt, die gerade in diesen Jahren wesentlich an Umfang zunahm.

Trotzdem wirkt es wie aus einer vergangenen Epoche, wenn man in dem Gesetz von Straßenbreiten mit 12 bis 16 Meter bei 15 Meter hohen anrainenden Häusern (5) lesen kann, oder etwa der Hinweis, daß in Anbetracht des Hofraumes auf „sanitäre Anforderungen“ Bedacht zu nehmen sei ( 4). 15 Prozent des Gesamtausmaßes sind dem „Haushof“ vorbehalten, in welchem Prozentsatz die „Lichthöfe“ mit einem Mindestmaß von 12 Quadratmetern enthalten sein konnten.

Es ist verständlich, daß in den Untergeschossen, bei einer Zimmergröße, die der des Lichthofes entsprach, von einer „Bedachtnahme auf sanitäre Anforderungen“ nichts zu merken gewesen ist.

Mit Verwunderung wird man sich beim rechtlichen und praktischen Studium dieser Situation die Frage vorlegen müssen, wie wohl die Verhältnisse vorher ausgesehen haben mögen. Wohnräume und Küchen nach den Gängen und Stiegenhäusern, das sind Beispiele für Möglichkeiten, die auch noch die Bauordnung 1883 gab. Der Hinweis auf Hauskanal und Rohrleitungen und die Forderung, daß für je zwei Wohnungen ein „Abort“ zu sein habe, schien bereits ein weitgehendes Entgegenkommen für die damalige Zeit bedeutet zu haben (57 und 59). Interessant ist es auch, daß für Neu- und Umbauten die Bedingung, Hochquellenwasser ins Haus zu leiten, vorgesehen war ( 62). So war also der „Modeschnitt“, unter dem ein Großteil der Wiener Häuser errichtet wurde.

Da sich bereits damals auch auf dem technischen Gebiet, zumal bautechnisch, die Dinge zu überstürzen schienen, war es verständlich, daß mehrmals der Versuch unternommen wurde, den Entwurf einer Bauordnung durchzubringen. 1895 bereits, und vor allem 1910, war die „Grundlage der Enquete-Beratungen einer Bauordnung für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien“ (Entwurf vom Jahre 1910), Verlag des Gemeinderatspräsidiums, Druck von Paul Gerin, Wien, in Diskussion. Der Motivenbericht führt eingehend aus, warum eine Novellierung notwendig ist. Von höchstem Interesse scheint daraus folgender Satz auf Seite 1:

,,DrcJ die Ausnutzung des Privateigentums dürfen also weder wesentliche Grundlagen des allgemeinen Wohles beeinträchtigt oder in ihrer Weiterbildung behindert, noch darf der Allgemeinheit gelegentlich einer solchen Ausnützung eine Aufwendung zugemutet werden, die ausschließlich oder doch weitaus zum größten Teil dem einzelnen Privateigentümer zugute käme.“

Soweit christlich-sozialer Geist aus der Zeit eines Karl Lueger.

Bedauerlicherweise haben verschiedene Umstände, und nicht zuletzt schließlich auch der Ausbruch des ersten Weltkrieges, verhindert, daß eine neue Bauordnung beschlossen hätte werden können. Erst mit dem Gesetz vom 25. November 1929 (LGB1. Nr. 11/1930) “urde hier endgültig Wandel geschaffen und eine wesentliche Besserung erzielt. Allerdings wurden bereits einige Zeit vorher, den Anforderungen der in der Zwischenzeit eingetretenen Entwicklung folgend, vielfach die Bestimmungen dieser neuen Bauordnung vorweggenommen, indem sie einfach bei Neubauten praktisch zur Anwendung gebracht wurden. So ist es zu verstehen, daß nicht erst mit dem Jahre 1930, sondern bereit! Neinige Zeit vorher Wohnraum geschaffen wurde, der sich wohltuend von dem in den Zinskasernen des vorigen Jahrhunderts unterscheidet. So eigenartig es klingen mag, in den Zimmern, die nach dem Hinterhof blicken, und aus ihren Fenstern, vor allem ihrer Lage, ist der Wert einer Wohnung abzuschätzen.

Wie trefflich ist wohl jene Bestimmung in der neuen, nun geltenden Bauordnung, die die Lage und Größe der Hauptfenster ( 82) und die Belichtung und Belüftung der Räume ( 8 3) regelt. Der freie Lichteinfall muß unter 45 Grad gewährleistet sein; eine geringfügige Ausnahme ist unter gewissen Voraussetzungen nur zugelassen, zumal dann, wenn der freie Einfall, wenn schon nicht senkrecht, so mindestens mit einer kleinen Abweichung auf das Fenster zu gesichert ist. Dadurch ist nicht nur dem Familienleben die private Sphäre mehr als früher gesichert, da es kaum noch möglich ist, daß ein Fenster dem anderen fast auf Reichweite gegenüberliegt, sondern es ist vor allem Licht und Luft, jene so wichtige Mangelware der Großstadt, mit einem Optimum an die einzelnen Wohnungen herangebracht.

Wie weitblickend ist etwa der Hinweis auf die besonders zu erlassenden gesetzlichen Vorschriften für die Herstellung von Gas- oder elektrischen Leitungen (96), womit der ständig neuen Entwicklung auf dem Gebiet der Technik Rechnung getragen wird.

Es würde verständlicherweise zu weit führen, einen eingehenden Vergleich zwischen den verschiedenen Bauepochen auf Grund ihrer gesetzlichen Grundlagen und der daraus folgenden Praxis zu ziehen. Trotzdem ist es notwendig, sich diese Gedanken einmal gemacht zu haben. Wenn nämlich aus Hausbesitzerkreisen darüber Klage geführt wird, daß die Mieten nicht entsprechend valorisiert worden seien, darf im Sinne einer konstruktiven und demokratischen Diskussion nicht auf die Erwiderung verzichtet werden, daß in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle — und dies zum Leidwesen aller Beteiligten — eine Valorisierung kaum möglich oder vertretbar ist. Der gebotene Wohnraum erfüllt nämlich vielfach nur zu einem Bruchteil die Erwartungen des Mieters. Es kann daher | auch die Gegenleistung nur ein Bruchteil dessen sein, was die Gegenseite erwartet. Gewiß werden beide Teile daran interessiert sein, den Althaus- | bestand zu erhalten, ihren Beitrag dazu leisten müssen und zu sehen haben, wie sie dieses Ziel am zweckmäßigsten erreichen.

Beide Teile werden also etwas nachgeben müssen. Jedenfalls aber wird eine Erhöhung des Ertrages für den Hausbesitzer kaum erzielt werden können, da die Mieter für ihn nicht aufkommen wollen und die Hausbesitzer ihn nicht fordern dürfen. Jenem Hausbesitzer, der über diese Klarheit indigniert sein sollte, darf ein Hinweis auf einen Leidensgefährten gegeben werden: Auch der Aktienbesitzer hat in den meisten Fällen nur eine ein-bis zweiprozentige Verzinsung, auf den Verkehrswert bezogen. Trotzdem werden Häuser und Aktien gekauft und verkauft, und beide sind glücklich darüber, diese Werte und nicht Anleihen oder Sparbücher aus der Gründerzeit zu haben.

Möge also das alte Haus noch lange stehen und seinen Bewohnern wie seinen Besitzern Glück und Zufriedenheit bringen und nicht zwischen beide einen Keil treiben, der hur zu sozialen Spannungen führen könnte. In diesem Sinn: Ad mukös annosl

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung