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DAS FASS OHNE BODEN

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„Ein hoher Prozentsatz von Großstädtern sucht wegen seelischer Schwierigkeiten den Psychiater auf. Hauptursache psychischer Erkrankungen ist oft die Wohnung“, stellte der Wiener Pychologe Dr. Max Piperek beim 4. Symposion zum Thema „Die Erneuerung unserer Städte, Märkte und Dörfer“ fest. Der Luxemburger Wohnungsfachmann Bob Frommes sekundierte ihm bei dieser von der Forschungsgesellschaft für den Wohnungsbau gemeinsam mit dem Land Tirol und der Stadt Innsbruck veranstalteten Tagung. Die Problematik des ungesunden Wohnens, besonders in den

Großstädten, durch Lärmbelästigung, schlechte Luft und verplante Wohnungen beschäftige sowohl Städtebauer als auch Psychologen und

Bereits im Jahre 1962 hatte die Forschungsgesellschaft für den Wohnungsbau in Innsbruck mit einer Tagung zum Thema „Wohnbaufinanzierung und Subjektförderung“ den Grundstein für eine Neuordnung der öffentlichen Wohnbauflnanzie- rung gelegt. Jahre danach griffen die Politiker auf das damals in Innsbruck erreichte Idealmodell einer Wohnbaufinanzierung zurück und drechselten daraus das Wohnbauförderungsgesetz 1968. Die Subjektförderung, im 62er Jahr in wilder Panik von der politischen Linken befehdet, war nunmehr zu einer allgemein anerkannten Notwendigkeit geworden. Auf dem Fiinanzie- rungssektor derart erfolgreich, wandte sich die Forschungsgesellschaft für den Wohnungsbau im Jahre 1965 neuen Themenkreisen zu. Die Stadterneuerung wurde beim Symposion in Krems zum neuen „Hit“ der Wohnbautheoretiker. Hier kamen die praktischen Erfolge schon rascher: Unmittelbar im Anschluß an das Altstadtsymposion schritt der Kremser Bürgermeister Wilhelm an die Sanierung des Stadtteiles Stein.

Auch das im darauffolgenden Jahr In Salzburg abgehaltene Symposion sowie eine ähnliche Tagung in Graz hatte ebensolche Konsequenzen.

So konnten dem Symposion in Innsbruck, das in der Zeit vom 10. bis 14. September abgehalten wurde, bereits vier Gesetzesentwürfe zur Diskussion vorgelegt werden;

• Ein Ortskemerhaltungsgesetz, das dafür sorgen soll, daß gewisse historisch wertvolle Ortskerne unter entsprechende Schutzbestimmungen gestellt werden und die finanziellen Möglichkeiten für die Erhaltung dieser Siedlungsteile geschaffen werden.

• Ein Wohnhausverbesserungsförderungsgesetz, wobei sich unter diesem langatmigen Namen die gesetzlichen Bestimmungen für die Verbesserung der Ausstattung von Altwohnungen, eventuell Zusammenlegung von Klein- und Kleinstwohnungen verbergen.

• Der Entwurf eines Landesgesetzes über Bodengenossenschaften, deren

wichtigste Aufgabe es sein sollte, den Stadterneuerern bei Verwaltung der Bauland- und Liegenschaftsfragen zu helfen und schließlich:

• Ein Gesetzesentwurf, der sich mit der zeitgemäßen Umgestaltung von Wohnungen beschäftigt.

Wie wichtig derartige gesetzliche Grundlagen sind, gab der Vorsitzende der Forschungsgesellschaft für den Wohnungsbau, Ministerialrat Dr. Ewald Liepolt, der „Furche-“ zu verstehen, wenn er feststellte, daß viele Bauordnungen und Wohnbäugesetze derartige Emeuerungs- und Sanierungsmaßnahmen noch kaum beinhalten. „Die von uns erarbeiteten Mindestanforderungen an eine

Wohnung“, meint Liepolt, „sollen ja nicht nur für Neubauwohnungen, sondern auch für Altwohnungen Gültigkeit haben.“

Die wichtigsten Punkte sind nach seiner Meinung bei Sanierungsmaßnahmen:

• Die Erhaltung der Standsicherheit der Althäuser.

• Feuchtigkeitsisolierung.

• Verbesserung des Schall- und Wärmeschutzes.

• Feuerschutzmaßnahmen und Heranziehung entsprechender Baustoffe und Bauweisen.

Daß die Stadterneuerung, die bei dieser internationalen Tagung in Innsbruck behandelt wurde, nicht nur ein Problem für Österreich sondern für ganz Europa ist, spiegelte sich in der Tatsache wider, daß Referenten aus Ost- und Westeuropa, aus den skandinavischen Ländern, ja sogar aus Ubersee auf Erfahrungen aus ihrer Heimat zurückgreifend berichteten. Daß Österreich von diesem Problem allerdings besonders betroffen ist. führen die Fachleute darauf zurück, daß:

• In Österreich in den Städten die Zerstörungsquote im zweiten Weltkrieg nicht so hoch war wie in der Bundesrepublik Deutschland.

• Daß die Zahl der Altbauwohnungen noch immer die der Neubauwohnungen bei weitem übertrifft.

• Und schließlich, daß in Österreich für Erneuerungsmaßnahmen kaum Geldmittel von Gemeinden zur Verfügung gestellt wurden.

Wie wichtig im Rahmen der Stadtsanierung die Erneuerung der Altwohnungen für die österreichische Wohnungsbilanz ist, führte der Ex- Landesbaudirektor von der Steiermark, Hofrat Hazmuka, bei der Innsbrucker Tagung aus:

• So sind rund 600.000 Wohnungen in Österreich vor dem Jahre 1880 erbaut worden.

• 700.000 Wohnungen entstanden im Zeitraum von 1880 bis 1918.

• 400.000 Wohnungen wurden in der Zeit zwischen 1919 und 1944 errichtet. Alle diese Wohnungen entsprechen nicht mehr unserer heutigen Wohnkultur.

Diesen 1,7 Millionen Altwohnun- gen stehen nur rund 700.000 bis 800.000 nach 1945 errichtete Wohnungen gegenüber. So ist es auch verständlich, daß wir in Österreich derzeit zirka 1,7 Millionen mittel und schlecht ausgestattete Wohnungen haben, während nur rund 800.000 der insgesamt 2,5 Millionen Wohnungen die Klassifizierung „gut“ erreichen, das heißt, über ein eigenes Vorzimmer, WC und Badezimmer innerhalb der Wohnung verfügen. Merkmale, die im internationalen Standard noch keineswegs allein für eine Einreihung unter die Kategorie „gut ausgestatteter“ Wohnungen genügen.

Hat man von den politischen Parteien zumeist bisher den Neuwoh- nungsbau als die allein seligmachende Weisheit der Wohnungswirtschaft hingestellt, so vertritt

Hazmuka zurecht die These, daß der österreichische Wohnungsmarkt ohne Sanierung nie befriedigt werden könnte. Je nachdem, wieviele der mittel und schlecht ausgestatteten Wohnungen man sanieren will, würden die Kosten für die Renovierung des Althausbestandes für ganz Österreich zwischen 20 und 120 Milliarden Schilling liegen. Hazmuka kommt zu dem Schluß, daß, selbst wenn man 400.000 Wohnungen mit einem Aufwand von 120 Milliarden sanierte, dieselbe Anzahl von Neubauwohnungen das Vierfache der Renovierungskosten ausmachen würde. Liepolt zu diesen Erkenntnissen: „Man ist fast versucht, zu sagen, daß wir im Neuwohnungsbau teilweise gigantische Fehlinvestitionen betrieben haben, weil wir das Kapital, das wir in den Altwohnungen haben, nicht entsprechend pflegen.“

Beschäftigte sich diese Tagung also auch mit wirtschaftlichen, finanziellen, rechtlichen und technischen Aspekten der Stadtsanierung, so stand im Mittelpunkt der Diskussion doch die Frage nach der Soziologie des Wohnens.

Als wichtigste Aspekte einer psy- chologisch-psychohygienischen Reform der Wohngesinnung und der

Leitbilder der Wohnbauplanung müßten nach Piperek die folgenden Grundsätze berücksichtigt werden:

1. Wahrung und Erleichterung des Kontaktes mit gewachsenen Gestalten (Natur-, Kunst- und allgemeines Werterleben).

2. Wahrung und Sicherung der persönlichen und familiären Intimsphäre.

3. Abschirmung der technischen Reize und insbesondere auch optischen industriellen Stigmata.

4. Erleichterung echter menschlicher Kommunikation.

5. Steigerung des Geborgenheitsund Heimatgefühles.

Daß sich das Symposion für Stadterneuerung natürlich auch mit der Frage befassen mußte, wie man den Altstadtgebieten neues wirtschaftliches Leben einhauchen könnte, ist klar. Bei der Tagung vertrat man allseits die Meinung, daß eine echte Erneuerung und Erhaltung nur dann von Erfolg begleitet sein könnte, wenn man Altbaugebiete mit entsprechend wirtschaftlichen Funktionen erfüllen würde.

Eine dem Symposion folgende schriftliche Arbeit des Wiener Wirtschaftsfachmannes Dipl.-Ök. Ingenieur Stefan Orban, gibt hierfür wesentliche Punkte an:

1. Es müsse die Funktion des Altbaugebietes im Zuge der Erneuerungsmaßnahmen festgelegt werden.

2. Die Urbanität des Altbaugebietes müsse erhalten bleiben bzw. wenn sie verlorengegangen ist wieder erneuert werden.

3. Altbaugebiete müßten durch Wiederbelebung wirtschaftlicher Einrichtungen und Wohnungen neu belebt werden.

4. Es müßten schließlich auch, wenn notwendig, Umstruktuierungen in baulicher und bevölkerungsmäßiger Hinsicht durchgeführt werden.

Der stellvertretende Vorsitzende des ständigen internationalen Ausschusses für historische Stadtviertel, der Schweizer Architekt John Witt- mer aus Zug, umriß das schwierige Problem der gesamten Stadterneuerung mit einem Satz: „Wir müssen uns hüten, aus Altstädten und Altstadtvierteln nur Museen zu machen, in denen es kein Leben und keine wirtschaftliche Aktivität mehr gibt.“

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