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Das Rad mit gestutzten Flügeln

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Ein halb vergessener Mann ist es, dem wir eine gemütvolle Schilderung der Welt verdanken, die um die Jahrhundertwende beiderseits der Wiener Verbindungsbahn lebte. Der Mann hieß Johannes Ziegler. Nicht einmal ein Oesterreicher, sondern ein Hamburger, der hier seine zweite Heimat fand, zum Kreise Tegett-hoffs gehörte, und, als dieser früh starb, das Amt im Marineministerium niederlegte und schriftstellerte. Dieser Mann stand auf der Brücke nächst dem Hauptzollamt, besah , sich den Verkehr und schrieb dann den „Blitzzug nach Hütteldorf“.

„In wirklich genialem Schwung unterfährt der Schienenstrang in zwei Tunnels den Körper der Südbahn“, schreibt der Exmarineur, „und ehe man sich's versieht, hält der Zug vor dem wohlbekannten Meidling. Bald darauf zweigt die Bahn ab und geht zwischen Hetzendorf und dem Garten von Schönbrunn nach Speising. Voll Anmut liegen die Sommerfrischen Lainz, Sankt Veit und Baumgarten ... die Eisenbahn ist ein poetisches Ding; sie gibt uns die Flügel der Freiheit ...“

Diese Flügel der Freiheit vergrößerte der technische Fortschritt nicht an Spannweite, sondern, im Gegenteil, beschnitt sie. Eigentlich sind es nur historische Ueberreste, und schwerlich hat man dem internationalen Gremium der letzten Wiener Verkehrsenquete diese Petrefakte vorgeführt. Das hätte mitunter seine Schwierigkeiten gehabt — ist doch vor nicht langer Zeit wegen Baufälligkeit eine der zwei Döblinger Haltestellen der Vorortelinie abgerissen worden.

Den äußeren Stadtring — im Gegensatz zum inneren, den die elektrifizierte Stadtbahn mit Gürtellinie, Wiental- und Donaukanallinie bildet — hat man in letzter Zeit als ein „Problem“ bezeichnet. In einem Aufsatze des „Aufbau“ (Monographie „Wiener Straßenverkehrsprobleme“, Oktober 1955, herausgegeben vom Stadtbauamt der Gemeinde Wien) ist sogar die Schaffung von unmittelbaren Uebergängen von der Stadtbahn auf die Nahbereiche, der Vollbahnstrecken als eine Sache betrachtet worden, welche „derzeit auf verschiedene Schwierigkeiten“ stößt. Nun ist es offensichtlich — und ein Verkehrsexperte wie Dr.-Ing. Kurt Leibbrand von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich unterstrich dies —, daß die geplante Schnellbahnstrecke Meidling— Floridsdorf Gefahr läuft, allzu weit außerhalb der Verkehrsschwerpunkte zu verlaufen. Ebenso offensichtlich ist es aber (sonderbarerweise sprechen die Bundesbahnen immer von einem Schnellbahn netz), daß dieser eine Ast zu einem dürren Ast werden muß, wenn man ihm nicht die Anschlüsse, die Zubringer und Sammler beiordnet.

Die Verbindungsbahn (bereits 1842 als Verbindung des Südbahnhofes — damals Gloggnitzer Bahnhof — mit der Nordbahn gedacht, 1859 mit einer Teilstrecke eröffnet) war zur Wiener Weltausstellung 1873 fertig. 1879 übernahm die Linie wieder der Staat aus dem Besitze der damals in Wien einmündenden Bahnen. Vor dem ersten Weltkriege beförderte die Bahn rund fünf Millionen Fahrgäste jährlich von Hütteldorf über Baumgarten, St. Veit an der Wien, Speising, Ober-Hetzendorf, Meidling-Süd, Favoriten, Arsenal, Rennweg, Hauptzollamt, Prater-stern zum Nordbahnhof. Es ist klar, daß beim Betrieb der geplanten Schnellbahn Meidling— Hauptzollamt—Floridsdorf sowohl der Zubringer aus dem Westen als auch der Anschluß aus dem Süden fehlt, welche (mit Ausnahme des Südastes Mauer-Rodaun und weiter, der erst gebaut werden müßte) die Verbindungsbahn bedienen könnte. Es handelt sich um volkreiche Gebiete, um Flächen, die durch Siedlungen immer mehr aufgeschlossen werden. Der 10. bis 13. Bezirk zählen 128.210 Haushalte mit 291.720 Bewohnern. Aus dem Süden wäre nicht allein die neuzubauende Strecke nach Rodaun— Perchtoldsdorf—Brunn am Gebirge—Mödling ein-zuschleifen (die Straßenbahnlinie 360, zumeist eingeleisig, kann einen starken Verkehr nur mühsam bewältigen, sonntags fahren mehrere DreiwagenAge im Konvoi), sondern auch die Lokalbahn nach Baden, welche bekanntlich für die Triester Reichsstraße eine Verkehrsfalle ersten Ranges darstellt.

Der zweite Flügel der Verbindungsbahn (gewöhnlich als Donauländebahn bezeichnet) steht mit dem ersten Flügel in sinnvoller Ver-

knüpfung. In Ober-Hetzendorf zweigt die Strecke über Inzersdorf, Rothneusiedel, Ober-laa, Klein-Schwechat,. Kaibahnhof, Ausstellungsstraße, Reichsbrücke, Brigittenau ab und mündet in Heiligenstadt. 75.000 Haushalte und 180.555 Personen erfaßt diese Linie, die vor dem ersten Weltkriege jährlich rund 700.000 Fahrgäste beförderte.

Wiens äußeren Bahngürtel schließt die Vorortelinie ab, welche von Hütteldorf zunächst der Westbahntrasse folgt, dann über Breitensee, Ottakring, Hernais, Gersthof, Ober- und Unter-Döbling ebenfalls nach Heiligenstadt führt. Mit dieser Strecke spräche man in den Bezirken 14 bis 19 gegenwärtig 225.000 Haushalte und 493.000 Bewohner an. An der Donauländebahn liegen weitgestreckte Fabrikanlagen. Das Verkehrsbedürfnis nach Süd (Inzersdorf—Rothneusiedl) beweisen die direkten Straßenbahnzüge früh und abends ab Ring, das Verkehrsbedürfnis nach Nord die überlasteten Linien ab Kai nach Brigittenau—Floridsdorf—Jedlesee—Strebersdorf und Stammersdorf sowie die direkte Verkehrsspitzenlinie 3l/5.

Die Bedeutung der Verbindungsbahn, der Donauländebahn und der Vorortelinie ist vorhin am Süd- und Nordausgange Wiens angedeutet worden. Im Osten ist zu beachten, daß durch den geplanten Ausbau des Flughafens und der Erdölraffinerie sowie den siedlungsmäßigen Aufschluß der Simmeringer Heide zusätzliche Verkehrsbedürfnisse entstehen. Im Räume von Kledering ist eine Verbindung zur Ostbahn und damit eine direkte Verbindung West-Süd-Ost (nach Bruck an der Leitha) möglich Da überdies eine Schleife Südbahn—Verbindungsbahn vorhanden ist, können Züge aus Baden nach Neulengbach geführt werden. Kehren wir von Norden nach Westen, finden wir, daß die Döblinger Haltestellen der Verbindungsbahn eine entlastende Rolle für die Straßenbahnlinien 38 und 39 ausüben könnten; sehr wichtig (weil die Linie 49 der Straßenbahn als überlastet gilt und man eine U-Bahn in ihrem Zuge führen möchte) ist die Haltestelle Breitensee, die man besser Hütteldorfer Straße bezeichnen könnte; dort ergibt es eine stadtfernere Uebergangs-möglichkeit Stadt- (Verbindungs-) Bahn-Straßenbahnlinie 49. (Zugleich eine Entlastung der Wientalstrecke Meidling—Hütteldorf.) Im Westen sind einer Prüfung wert: Haltestelle Wilhelminenstraße (Siedlungen) und Haltestelle Gablenzgasse (zur Linie 47, Flötzersteig, ebenfalls Siedlungen).

Ausschlaggebend bei der Wiedereröffnung des äußeren Bahngürtels für den Personenverkehr (stellenweise ließen die Bundesbahnen sogar das zweite Gleis abmontierten), ist eine soziale Tarifpolitik. Im letzten Jahre der Konjunktur vor dem zweiten Weltkriege (1929) galt auf der Vorortestrecke der gleiche Fahrpreis wie auf der Straßenbahn (28 Groschen); auf der Verbindungsbahn und Donauländebahn betrug er nur zwei Groschen mehr. Die Fahrscheine müßten Umsteigeberechtigung haben — wie das beispielsweise in Berlin (zu einem für den Umsteigefahrschein etwas höheren Preis) schon vor dem letzten Kriege zwischen elektrifizierter Stadtbahn (S-Bahn), Untergrund- und Straßenbahn sowie Autobus galt. Selbstverständlich sind die äußeren Gürtelstrecken auf elektrischen Betrieb umzustellen — was in einem Zuge mit der Planung Meidling—Floridsdorf geschehen kann.

Vor dem letzten Kriege gab es unter Benützung der äußeren Ringbahnlinie direkte Verbindungen von Purkersdorf (Westbahn) nach Meidling und Vöslau (Südbahii) sowie Korneuburg—Stockerau (Richtung Retz) und Absdorf-Hippersdorf (Richtung Wachau) über den Nordbahnhof. Ohne solche umfassende Verbindungen und tarifliche Planungen hängt letzten Endes der kommende Generalverkehrsplan Wiens in der Luft. Es wäre unbillig, von der Bundeshauptstadt allein Wunder zu erwarten. Gerade der Fall der beschnittenen Flügel auf den äußeren Gürtelstrecken beweist, daß die Bundesbahnen ihren gemessenen Teil an der modernen Verkehrsgliederung Wiens übernehmen müssen. Eine (noch nicht bestehende) Schnellbahnlinie und zwei moderne Eisenbahnhöfe wären ein dürftiger Beitrag.

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